Aalener Nachrichten

VIRTUELLE WELTEN IN DER KUNST

Neue Ausstellun­g im Zeppelin Museum rückt Virtuelle Realität in den Blickpunkt

- Von Daniel Drescher

Illusion und Wirklichke­it in Friedrichs­hafen

FRIEDRICHS­HAFEN - Wer sich eine Brille aufsetzt, will in der Regel besser sehen. Mit Virtual-Reality-Brillen ist es anders: Wer sich diese multimedia­len Sehhilfen überstülpt, will der Realität entfliehen und in andere Welten eintauchen. Was diese Technologi­e mit der Kunst macht und mit dem Menschen, darum dreht sich die neue Ausstellun­g im Zeppelin Museum in Friedrichs­hafen. Unter dem Titel „Schöne Neue Welten – Virtuelle Realitäten in der zeitgenöss­ischen Kunst“sind völlig unterschie­dliche Arbeiten von 13 Künstlern zu sehen. Der Museumsbes­ucher ist dabei nicht nur Betrachter, sondern wird selbst zum Akteur.

Ausgerechn­et den Roten Planeten hat sich Halil Altindere für seine VRInstalla­tion „Journey To Mars“herausgesu­cht: Als Arnold Schwarzene­gger 1990 im Filmklassi­ker „Total Recall“virtuelle Agentenabe­nteuer auf dem Mars erlebt, waren VirtualRea­lity-Brillen noch etwas ziemlich Exotisches. Heute verschenkt Internetri­ese Google die Karton-Variante „Cardboard“, um die Masse an das Thema heranzufüh­ren, und Mobilfunka­nbieter bieten die optischen Erlebnisap­parate im Paket mit Smartphone­s an, auf denen die entspreche­nde App den Zugang zu digitalen Parallelwe­lten ermöglicht. Wer sich im Zeppelin Museum die VRBrille aufsetzt, um Altinderes Kunstproje­kt näherzukom­men, findet sich ebenfalls auf dem Mars wieder. Der türkische Künstler gibt mit der Installati­on einen bitteren Kommentar zum Umgang Europas mit Flüchtling­en ab. Seine überspitzt­e Idee: Wenn niemand die Menschen aufnehmen will, werden sie eben per Raumschiff zum Mars verfrachte­t. Und so begleitet der Zuschauer die Astronaute­n wider Willen auf den Roten Planeten, auf dem es ziemlich unwirtlich aussieht. Passenderw­eise begegnet der Zuschauer in der Installati­on auch dem früheren Kosmonaute­n Muhammed Ahmed Faris. Er ist der einzige Syrer, der jemals im Weltall war – heute lebt der Assad-Gegner als Flüchtling in Istanbul.

Um Syrien geht es auch in einem Film über das Kollektiv „Forensic Architectu­re“: Die Forschungs­gruppe hat anhand von Erinnerung­en Überlebend­er ein Foltergefä­ngnis bei Damaskus mittels Virtueller Realität rekonstrui­ert. Wie US-Militärs VR-Simulation­en zur Vorbereitu­ng auf Kriegseins­ätze, aber auch zur Behandlung von Traumata einsetzen, führen die „Serious Games“-Arbeiten des 2014 verstorben­en Filmemache­r Harun Farocki vor Augen.

Das ist eine Stärke der Ausstellun­g, die von Ina Neddermeye­r kuratiert wurde: Sie macht deutlich, wo heute schon mit VR gearbeitet wird – und widerlegt dabei das Klischee, dass Virtuelle Realität nur etwas für Videospiel-Nerds ist. Denn die Gamingbran­che gehört zwar zu den treibenden Kräften im VR-Sektor, ist aber nur einer von vielen Einsatzber­eichen – neben Medizin und Tourismus etwa.

Nicht nur mit politische­n Themen beschäftig­t sich die Ausstellun­g, sondern auch mit Gesellscha­ft und Zeitgeist. Welche Wichtigkei­t und Aussagekra­ft haben Geschlecht­errollen in artifiziel­len Welten überhaupt noch? Und was passiert mit Erotik und Sinnlichke­it in Zeiten von VR? Die Pornobranc­he hat ein großes Interesse am VR-Boom, und entspreche­nde Inhalte gehören für viele Käufer einer VR-Brille zu den Kaufargume­nten. Die dazugehöri­ge Installati­on von Sidsel Meineche Hansen ist nicht jugendfrei (und entspreche­nd mit einem Ab-18-Hinweis versehen), provoziert aber zum Nachdenken über ethisch-moralische Implikatio­nen – etwa, wenn man sich im Netz den digitalen Traumpartn­er selbst zusammenba­steln kann.

Spätestens hier wird klar, warum sich der Titel der Ausstellun­g an den Literaturk­lassiker „Schöne Neue Welt“von Aldous Huxley anlehnt. Die Zukunft kann ziemlich gruselig sein.

Gestalter in der Parallelwe­lt

Optisch am beeindruck­endsten wirkt die eigens für die Ausstellun­g entstanden­e Installati­on „Pre-Alpha Courtyard Games (raindrops on my cheek)“von Florian Meisenberg. Hier wird der Zuschauer in einem raumgreife­nden Konstrukt selbst zum Gestalter und kann in einem virtuellen Raum dreidimens­ionale Objekte erschaffen – dank modernster Technik mit bloßen Händen anstelle von Computerco­ntrollern.

Dass der Mensch nicht erst mit der Virtuellen Realität neue Blicke auf die Realität entwickelt hat, veranschau­lichen indes Stereoskop-Fotografie­n des frühen 20. Jahrhunder­ts, die was zeigen? Genau. Zeppeline. Wir sind hier schließlic­h in Friedrichs­hafen.

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© Foto: Unsplash
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FOTO: ZEPPELIN MUSEUM/MARKUS TRETTER Bitterer Kommentar: In „Journey To Mars“begleitet man Flüchtling­e, die auf den Mars verfrachte­t werden.

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