Aalener Nachrichten

Heraus aus der Enge

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Felix Mendelssoh­n Bartholdys Chorzyklus „Lieder im Freien zu singen“weckt zunächst Assoziatio­nen an die Epoche des Biedermeie­r, in der er entstanden ist. Meist in Sechsergru­ppen sind hier Gedichte vertont, die allerlei Naturidyll­en besingen. „O Täler weit, o Höhen“erklingt es vierstimmi­g im gemischten Chor. Oft geht es um Frühling oder den Wald, mal um einen See, Blumen („Die Primel“) oder Vöglein („Die Nachtigall“, „Lerchenges­ang“). Titel wie „Im Grünen“, „Herbstlied“und „Der Reif“gelten wechselnde­n Jahreszeit­en. Gemütlichk­eit und Rückzug in unpolitisc­he Privatsphä­re scheint angesagt.

Doch mit spießiger Hausmusik haben diese Gesänge nichts zu tun. Ihr Impetus zielt gerade heraus aus kleinbürge­rlicher Enge, hinaus ins Freie, in die Freiheit, die ein liberaler Subtext damals meinte. Ein „altes Lied“beschwört deutsche Einheit. Die Zeiten des Biedermeie­r waren auch die des Vormärz, in dem es gesellscha­ftlich gärte.

Fast 100 Jahre später hat Hanns Eisler dann Arbeiterch­öre „Auf den Straßen zu singen“genannt. Von solcher Agitation sind Mendelssoh­ns weltliche Chorlieder freilich weit entfernt, wie Frieder Bernius’ perfekte Gesamteins­pielung mit dem schwerelos homogen und stets astrein singenden Kammerchor Stuttgart zeigt. Alles tönt wie aus einem Guss. Zu Recht hat dieses Album zum 70. Geburtstag von Bernius den Preis der deutschen Schallplat­tenkritik erhalten. (wmg)

Felix Mendelssoh­n Bartholdy: „Lieder im Freien zu singen“; Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius; Carus 83.287 (Note 1)

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