Moderne Metropole in Dur und Moll
Ein Wochenende in Warschau führt auf die Spuren einer tausendjährigen Stadtgeschichte
Es ist eine einfache Formel, die Agnieszka Biesiadecka bei der Führung durch ihre Heimatstadt Warschau Wochenendbesuchern mit auf den Weg gibt: Was hier am ältesten aussieht, ist in Wahrheit am jüngsten. Bestes Beispiel: die mittelalterliche Altstadt, die es als einzige Rekonstruktion auf die Weltkulturerbeliste der Unesco geschafft hat. Das pittoreske Ensemble ist Warschaus touristisches Zentrum. Dabei schlug das Herz der Stadt jahrhundertelang in der Neustadt, dort wo die Polen nun auch wieder den Mittelpunkt ihrer modernen Millionenmetropole verorten. Noch immer ragt hier auf den Trümmern der Vergangenheit Stalins Kulturpalast in den Himmel, nun aber umringt von prominenten Wolkenkratzern wie dem Złota 44 von Daniel Libeskind. Von den Jugendstilhäusern, die das Viertel hier einst prägten, kann man sich heute noch auf Agnieszkas Tablet ein Bild machen.
Rund um die Uhr geöffnet Freitag:
Für Spätankömmlinge schön zu hören, dass nicht nur Kneipen und Bars, sondern auch etliche Restaurants in Warschau rund um die Uhr geöffnet haben. Oder wenigstens bis ein Uhr nachts wie die Hala Koszyki, eine vor 100 Jahren erbaute Markthalle, inzwischen stilvoll wiederbelebt mit anspruchsvollen Speiselokalen, zahllosen Feinkostständen mit Spezialitäten aus aller Welt und einer 50 Meter langen Bar.
Samstag: Am Wochenende ist der Königstrakt für den Verkehr gesperrt. Darüber dürfen sich besonders die Touristen freuen, die heute Vormittag auf Frédéric Chopins Spuren unterwegs sein wollen. 2010 hat die Stadt zum 200. Geburtstag des von seinen polnischen Landsleuten als Musiker wie Patriot gleichermaßen Verehrten speziell präparierte Sitzbänke installiert. Positioniert vor den Stätten seines Lebens und Wirkens, bringen sie auf Knopfdruck oder per Handy entsprechende Kompositionen zu Gehör. So den Trauermarsch vor der Heilig-KreuzKirche, wo sein Herz seinem Wunsch gemäß in einer Säule eingemauert ruht. Unweit von hier im Ostrogski-Palast dürfen Kenner den Pleyel-Flügel bewundern, an dem das Genie im Pariser Exil bis zuletzt komponierte. Er ist das wertvollste Exponat im Chopin-Museum, das mit seiner über fünf Ebenen arrangierten multimedialen Schau zu den modernsten biografischen Museen überhaupt zählt. Seine Neugestaltung zum Jubiläumsjahr war ein europäisches Projekt, betont Agnieszka.
Wenn sie ihre Gäste über den Königstrakt führt, sagt sie: „Das sind unsere Champs Élysées.“Der Boulevard wird gesäumt von rekonstruierten Kirchen und Palästen aus dem Warschau vergangener Jahrhunderte. Darin residieren nun Ministerien, Universitätsinstitute und, in dem weißen Neo-Renaissance-Prachtbau neben dem Präsidentenpalast, das Hotel Bristol. Im Westen öffnet sich die Prachtstraße zum Sächsischen Garten, ein schöner Landschaftspark im englischen Stil, nicht der einzige in Warschau. Besonders bemerkenswert findet Agnieszka, dass er schon ein halbes Jahrhundert vor Versailles entstanden ist. Theater und Oper grenzten an. Man kann sich vorstellen, wie schön das hier war im 18.Jahrhundert, sagt sie. Warschau wurde nämlich auch das „Paris des Ostens“genannt. Schön ist der Park immer noch, obwohl nach den Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg nur teilweise wieder hergestellt. Wer nach dem trubeligen Bummel über den Königstrakt etwas Entspannung sucht, ist hier genau richtig. Aus den Säulen der Arkaden, die vom Sächsischen Palast einzig erhalten geblieben waren, haben die Polen das ebenfalls zerstörte Grabmal des Unbekannten Soldaten aus den 1920erJahren neu errichtet.
Blick über die ganze Stadt
Der Samstag in Warschau endet auf der rechten Weichselseite im heutigen Szeneviertel Praga, wo Roman Polanski in einem Hinterhof „Der Pianist“gedreht hat, seinen Film über das „wunderbare Überleben“des jüdischen, polnischen Komponisten und Pianisten Władysław Szpilman. Das einstige Arbeiterviertel hat in den vergangenen Jahren Künstler und Studenten angezogen und ein buntes, schrilles Kulturleben hervorgebracht. Zwischen all den alternativen Kneipen, Clubs und Cafés findet man dank Agnieszka auch zu einem Lokal, das so heißt wie das, was es dort zu essen gibt, nämlich: „Hausgemachte Knödel und Kuttelsuppe“. Es gibt aber auch Hering mit Wodka. Der Trend geht indes längst zu gehobenen Restaurants in schick restaurierten Fabriken.
Sonntag: Wer sich dem Kulturund Wissenschaftspalast nähert, ist beim Auftauchen erst mal überwältigt von den bombastischen Ausmaßen. Dieses einzig noch komplett erhaltene Baudenkmal des sogenannten sowjetischen Realismus umfasst Museen, Theater, Kinos und einen riesigen Kongresssaal, in dem nicht nur die kommunistische Partei tagte. Auch Miles Davis, die Rolling Stones und Marlene Dietrich wurden hier schon gefeiert. Ihr Vater habe an dieser Stelle stets in die andere Richtung geschaut, sagt Agnieszka. Er konnte den Anblick der „Stalinstachel“nicht ertragen. Sie selbst habe das Kinderprogramm im Technikmuseum geliebt. Und natürlich konnte sie auch damals schon wie die Touristen heute von der Plattform im 32. Stock aus die ganze Stadt überblicken.
Wenige Schritte hinter dem Palast markiert ein im Pflaster eingelassenes Band aus Messing symbolisch die Grenze zum ehemaligen Warschauer Ghetto, von den nationalsozialistischen deutschen Besatzern zynisch „Jüdischer Wohnbezirk in Warschau“genannt. Rund 500 000 Menschen jüdischer Herkunft, aus Warschau, aber auch aus ganz Europa wurden hierher gebracht, lebten hier eingepfercht. Fast alle fanden bis 1942 den Tod – verhungerten oder wurden bei der Niederschlagung des Ghettoaufstandes oder im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Eine große Zahl von Denkmälern erinnert an sie, wie an den Kinderarzt Janusz Korcak, der 200 Kinder aus seinem Waisenhauses nach vergeblichen Versuchen, sie zu retten, in den Tod begleitete. Weil die Mörder auch die Häuser der Menschen vernichteten, ist hier heute bis auf eine einzige Synagoge kaum mehr etwas übrig von dem, was eine Vorstellung vom Leben im ehemaligen jüdischen Viertel vermitteln könnte. Einen guten Weg beschreitet das 2014 eröffnete Historische Museum der polnischen Juden, indem es ihre 1000-jährige Geschichte bis in die sozialistische Zeit hinein wieder aufleben lässt; es ist dabei in museumstechnischer wie in architektonischer Hinsicht richtungsweisend. Und gibt viel zum Nachdenken mit auf den Heimweg.