Juristisches Nachspiel einer Tragödie
2010 verloren 21 Menschen bei der Duisburger Loveparade ihr Leben – Prozess in Düsseldorf beginnt
DUISBURG (dpa) - Sie wollten feiern, Spaß haben, tanzen – und starben einen grauenvollen Tod. 21 Menschen aus sechs Ländern ließen im Juli 2010 bei der Loveparade ihr Leben. Sie hießen Svenja, Jian, Kathinka oder Eike. Sie wurden erdrückt, als am einzigen Ein- und Ausgang zum Gelände der Technoparade zu viele Menschen gleichzeitig waren. Mehr als 650 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer.
Tragen dafür vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent und sechs der Stadt Duisburg die Schuld? Dies soll der heute beginnende Strafprozess klären. Es könnte einer der umfangreichsten der Nachkriegszeit werden: Es gibt viele Beteiligte und eine fast unüberschaubare Menge an Beweismitteln und Zeugenaussagen.
Die Staatsanwaltschaft wirft den vier leitenden Mitarbeitern des Veranstalters vor, ein ungeeignetes Zuund Abgangssystem geplant zu haben. Bei der Stadt Duisburg wird ein Dreierteam des Bauamtes verantwortlich gemacht. Die drei sollen die benötigte Baugenehmigung erteilt haben, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorgelegen haben sollen. Die Sicherheit der Besucher sei nicht gewährleistet gewesen. Die anderen drei Angeklagten sind Vorgesetzte des Teams, darunter der damalige zuständige Beigeordnete für Stadtentwicklung. Sie sollen das Genehmigungsverfahren nicht ordentlich überwacht haben. Alle zehn sind wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung angeklagt.
Weil kein Saal des Landgerichts Duisburg groß genug ist, findet die Hauptverhandlung im Saal des Kongresszentrums Düsseldorf statt. Rund 500 Personen bietet er Platz. Mehr als 300 davon stehen für Zuhörer und Pressevertreter zur Verfügung. Die zehn Angeklagten werden von rund 30 Verteidigern vertreten. Der Anklage haben sich rund 60 Nebenkläger angeschlossen. Für sie setzen sich weitere 35 Anwälte ein.
Hinter den Zahlen verbergen sich viele Schicksale: „Der Prozess wird für die Hinterbliebenen sowie für die Verletzten und Betroffenen ebenso wie für die Prozessbeteiligten eine enorme seelische Belastung sein“, sagt Jürgen Widera, Vorstand der Stiftung „Duisburg 24.7.2010“, die für jeden Verhandlungstag Notfallseelsorger und Psychologen organsisiert, die Hinterbliebenen und Verletzten zur Verfügung stehen.
Vor dem Prozess stand ein juristisches Tauziehen. Zunächst zogen sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Duisburg über dreieinhalb Jahre hin. 96 Polizisten vernahmen 3409 Zeugen und sichteten Videomaterial von Überwachungskameras und Handys in einer Gesamtlänge von rund 1000 Stunden. Fünf Staatsanwälte und ein Abteilungsleiter waren mit dem Fall befasst.
Mehr als zwei Jahre nach Anklageerhebung im April 2016 folgte dann ein Paukenschlag: Eine Kammer des Landgerichts Duisburg ließ die Anklage nicht zur Hauptverhandlung zu. Hauptgrund: Das für die Anklage zentrale Gutachten des britischen Panikforschers Keith Still leide an gravierenden Mängeln und sei nicht verwertbar.
Die Staatsanwaltschaft und Nebenkläger legten mit Erfolg Beschwerde ein: Gut ein Jahr später entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, dass das Landgericht doch verhandeln muss. Allerdings muss eine andere Kammer den Fall bekommen: die 6. Große Strafkammer. Die muss nun unter einem gewissen Zeitdruck verhandeln: Bis Ende Juli 2020 muss ein erstes Urteil vorliegen, sonst tritt die sogenannte absolute Verjährung ein.
Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Julius Reiter vertritt bei dem Prozess zwölf Nebenkläger. „Wir erwarten für die Opfer und Angehörigen vor allem Aufklärung, welche Umstände und Verantwortlichkeiten zur Katastrophe geführt haben“, sagt er. Auch bestehe der Wunsch, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Anwältin Kerstin Stirner verteidigt einen angeklagten LopaventMitarbeiter. „Wir erwarten ein Ergebnis, das jedenfalls keine Verurteilung ist“, sagt sie. „Die individuelle Schuld muss festgestellt werden. Wenn das nicht möglich ist, muss das zu einem Freispruch führen.“Die Juristin hält den Sachverhalt für zu komplex, um ihn überhaupt vor Gericht zu bringen.
Nicht angeklagt sind der später abgewählte Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) sowie der Fitnessstudio-Unternehmer Rainer Schaller („McFit“), der einige Jahre vor dem Unglück die Rechte an der Loveparade erworben hatte. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die beiden selbst Einfluss auf die fehlerhafte Planung oder die Erteilung der Genehmigung genommen hätten, hatte die Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung mitgeteilt. Beide sollen aber als Zeugen aussagen. Wann, ist noch offen.
Bis Ende 2018 hat das Gericht 111 Verhandlungstage angesetzt. Verteidigerin Stirner glaubt, dass die Termine „auf gar keinen Fall“ausreichen. „Es kann durchaus passieren, dass wir in den Bereich der absoluten Verjährung kommen.“