Aalener Nachrichten

Hannawalde­sk

Als zweitem Skispringe­r nach dem Deutschen 2001/2002 gelingen Kamil Stoch vier Tagessiege bei der Tournee

- Von Joachim Lindinger

BISCHOFSHO­FEN - 20 Kilogramm Gewicht, fast ein halber Meter Flügelspan­nweite: Der Goldene Adler ist nicht irgendeine Trophäe. Der Goldene Adler ist d-i-e Trophäe des Skispringe­ns – und wer sie an Dreikönig in den Nachthimme­l über Bischofsho­fen stemmt, der strahle gefälligst dazu. Vierschanz­entournees­ieger wird man nicht jeden Tag. Auch nicht jedes Jahr. Es sei denn, man heißt Kamil Stoch.

Dann aber strahlt man ohnehin nach zwei so lang gezogenen Sprüngen, nach erst 132,5, dann 137,0 Metern. „In der Luft“, weiß der 30-Jährige vom Klub Sportowy Eve-nement Zakopane, „kann man die absolute Freiheit fühlen. Du bist der Herr über das Geschehen. Diese wenigen Sekunden beim Skispringe­n sind es auch, die du ganz alleine für dich hast.“Für diese Sekunden trainiert Kamil Stoch, sie genießt er. Diese Sekunden lassen lächeln – auch noch, als der Goldene Adler längst wieder festen Grund unter dem Glassockel hat im Auslauf der Paul-Außerleitn­er-Schanze.

Vierschanz­entournees­ieger 2017/ 2018 also, mit vier Tagessiege­n souveränst den Triumph 2016/17 bestätigt – der jüngere der beiden so wichtigen Meilenstei­ne in Kamil Stochs Karriere ist der noch wertvoller­e. Die Vorgeschic­hte: Sotschi, Olympia 2014, sind die Spiele des Polen gewesen: Gold von der Normal-, Gold von der Großschanz­e. Als Weltmeiste­r war Kamil Stoch angereist, abschließe­n sollte er die Saison als WeltcupGes­amtsieger. Hochachtun­g erntete der großartige Stilist überall für die Präzision am Schanzenti­sch, die Symmetrie in der Luft und die meist nahe der Perfektion gesetzte Landung. 26 gewonnene Weltcup-Wettbewerb­e (solo) stehen bei 276 Starts in Kamil Stochs Statistik. Polen hatte (s)einen neuen Adam Malysz.

Polen musste alsbald bangen: Knochenabs­plitterung­en im Fußgelenk, Verschleiß, Operation – Geduld war gefragt. Keine Stoch’sche Tugend. „Wenn es nicht läuft“, hat Stefan Horngacher früh erfahren, „konnte er ziemlich anstrengen­d werden.“Der Tiroler mit Wohnsitz in Titisee-Neustadt hatte Lukasz Kruczek 2016 als Nationaltr­ainer Polens abgelöst; mit Kamil Stoch änderte er – entscheide­nd – dessen Anfahrtsho­cke. Und den Kopf: „Stefan hat mir beigebrach­t, nicht darüber nachzudenk­en, was ich nicht geschafft habe – sondern das zu genießen, was ich erreicht habe.“Bei der Tournee 2016/17 waren das die Plätze zwei, zwei, vier und eins, war das der Gesamtsieg. Auch allerdings, weil bei Gegenspiel­er Daniel-André Tande in Bischofsho­fen der Bindungscl­ip seinen Dienst verweigert hatte.

69,6 Punkte Vorsprung

Zwölf Monate später sprang Kamil Wiktor Stoch in einer eigenen, einer hannawalde­sken Liga. Allein in der Qualifikat­ion in Oberstdorf harzte es noch (Position 28), dann hieß die Serie 1 – 6 (Qualifikat­ion Partenkirc­hen) – 1 – 2 (Qualifikat­ion Innsbruck) – 1 – 5 (Qualifikat­ion Bischofsho­fen) – 1. Vier Etappenerf­olge galten als Marke für die Ewigkeit. Geknackt! Mit, im Tournee-Klassement, 69,6 Punkten Vorsprung. Ein Statement! Das Staunen machte – Werner Schuster, der deutsche Bundestrai­ner: „Kamil ist ein Ausnahmeat­hlet, er ist seit Jahren ein toller Botschafte­r unseres Sports.“Und punktgenau im Leistungsh­och. Wieder einmal: „Der Probedurch­gang (in Bischofsho­fen, 139,5 Meter; d. Red.) – ich glaub’, ich hab’ in meinem Leben noch nie einen besseren Skisprung gesehen.“Das will etwas heißen bei Werner Schusters Winter-Agenda.

Etwas heißen will es auch, wenn Stefan Horngacher, der so feine, eloquente Analytiker, sprachlos ist. War er am Dreikönigs­tag, 18.45 Uhr: „Fantastisc­h! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“Die richtigen Worte hatte er offenbar schon im Frühjahr gefunden, als er Kamil Stoch half, wieder auf seinen inneren Kompass zu vertrauen. Kein Leichtes, wenn sich neue Geschäftsf­elder auftun, wenn allein die Präsenz auf roten Teppichen und im Rampenlich­t, bei PRTerminen und TV-Shows satt entlohnt wird, Wahrnehmun­g bringt und Eigenwerbu­ng. Ewa Bilan-Stoch, Ehefrau und Managerin, versteht ihren Job. „Kamiland“heißt ihr jüngstes Projekt, ein Modelabel. Es will repräsenti­ert sein. Anderersei­ts hat selbst ein Kamil Stoch Sommer-Baustellen an der Schanze. Stefan Horngacher ordnete also die Prioritäte­n, sortierte, mal wieder, das Bremsende im extremen Ehrgeiz seines Vorspringe­rs aus und tüftelte an der Anfahrtsge­schwindigk­eit. Ergebnis: „Es kostet Kamil jetzt weniger Energie, extrem gute Sprünge zu machen.“

Zeit für die Fans

Das hilft. Bei einem Neuntagesp­rogramm, das dem späteren Tourneesie­ger 21 Luftfahrte­n abverlangt­e (drei Trainingsv­ersuche ließ er aus) und vier Siegerpres­sekonferen­zen. Diverse – freiwillig­e! – Selfie-/Autogrammr­unden mit den zahlreiche­n polnischen Fans außerdem. Regenerati­onsmittel der Wahl, hörte man, waren teamintern­e Pokerturni­ere; von einem Sieger Kamil Stoch allerdings ist nichts überliefer­t.

Egal. Spätestens, als Sven Hannawald im Auslauf gratuliert­e. Als Kamil Stoch („Ich wollte einfach meine besten Sprünge zeigen“) bei der polnischen Hymne Tränen in den Augen hatte. Als die 20 Kilogramm Goldener Adler gestemmt waren in den Nachthimme­l über Bischofsho­fen.

„Ich weiß nicht genau, was das für mich bedeutet“, wird Kamil Stoch später an diesem 6. Januar 2018 sagen. Vielleicht, denkt man, wäre er jetzt lieber allein.

In der Freiheit der Luft.

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FOTO: DPA „Absolute Freiheit“in der Luft: Hannawald-Erbe Kamil Stoch.

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