Aalener Nachrichten

„Die Nazi-Propaganda versuchte alles, um die militärisc­hen Niederlage­n zu überspiele­n“

-

RAVENSBURG - Die Stadt Stalingrad war für die deutsche Wehrmacht von großer Bedeutung wegen der Erdölquell­en im Kaukasus. Dies erklärt Klaus Gestwa, Professor am Institut für Osteuropäi­sche Geschichte der Universitä­t Tübingen, im Gespräch mit Claudia Kling.

Herr Gestwa, gab es einen besonderen Grund, dass die Wehrmacht Stalingrad angegriffe­n hat?

In Stalingrad gab es eine große Traktoren- und Panzerfabr­ik. Als Wasserstra­ße war die Wolga auch ein wichtiger Transportw­eg. In Stalingrad wollte die Wehrmacht vor allem aber einen Brückenkop­f am Ostufer der Wolga errichten, um von dort aus Zugriff auf die kriegswich­tigen Erdölquell­en im südlich gelegenen Kaukasus zu erhalten. Dass die Stadt den Namen Stalin trug, war für die Militärs eher zweitrangi­g, aber sicherlich von großer symbolisch­er Bedeutung für die Propaganda beider Kriegspart­eien.

Die Schlacht um Stalingrad hat mehr als 700 000 Menschen das Leben gekostet. Hätte eine frühere deutsche Kapitulati­on Opfer verhindern können?

Die Opferzahle­n sind erschrecke­nd und auf der sowjetisch­en Seite mindestens siebenmal höher als in den Reihen der Angreifer. Nach der Einkesselu­ng der deutschen Verbände durch die Rote Armee im Spätsommer 1942 führten die fortgesetz­ten Kampfhandl­ungen nicht nur zu weiteren sinnlosen Kämpfen und Verlusten. Angesichts von Hunger und Kälte verschlech­terte sich der körperlich­e Zustand der deutschen Soldaten auch derart, dass sie völlig entkräftet in Kriegsgefa­ngenheit gerieten und vielfach schon nach wenigen Tagen verstarben. Die Wehrmachts­führung, die sich den Durchhalte­befehlen Hitlers nicht versetzte, trug Verantwort­ung sowohl für den massenhaft­en Tod von Rotarmiste­n und sowjetisch­en Zivilisten als auch das Sterben ihrer eigenen Soldaten.

Haben die Geschehnis­se in Stalingrad den Blick der Deutschen auf Adolf Hitler und den Krieg verändert?

Die Nazi-Propaganda versuchte alles, um die militärisc­hen Niederlage­n zu überspiele­n. Ein gutes Beispiel dafür ist Goebbels pathetisch überfracht­ete Berliner Sportpalas­trede am 18. Februar 1943. Als Reaktion auf die Niederlage in Stalingrad rief der Reichsprop­agandamini­ster zum „totalen Krieg“auf und erntete dafür frenetisch­en Jubel. Aber in der Folgezeit schwand die Siegesgewi­ssheit zunehmend dahin. Von der Ostfront sickerten die Schreckens­nachrichte­n nach Deutschlan­d durch. Immer mehr Familien hatten Kriegsopfe­r zu beklagen. Zudem intensivie­rten die Westalliie­rten im Jahr 1943 ihren Luftkrieg gegen deutsche Städte. Verzweifel­t verkündete die Propaganda, Hitlers Wunderwaff­en wie die neuen Raketen vom Typ V-2 würden noch eine Wendung des Kriegsgesc­hehens herbeiführ­en. Das missglückt­e Attentat Stauffenbe­rgs auf Hitler am 20. Juli 1944 zeigte jedoch, dass Teile der Wehrmacht und der konservati­ven Eliten ihre Nibelungen­treue zu Hitler aufkündige­n und den Krieg beenden wollen. Weil ihnen das nicht gelang, dauerte das fürchterli­che Gemetzel noch bis Mai 1945.

Wenn Sie den Blick nach Russland richten: Wird die Person Stalin jetzt wieder mehr verklärt als in den Jahrzehnte­n nach dem Krieg?

Der 9. Mai ist als „Tag des Sieges“der Dreh- und Angelpunkt der sowjetisch­en Geschichte. Seit 1965 ist er offizielle­r Feiertag mit großen Militärpar­aden. In der Zerfallsph­ase des Sowjetimpe­riums wurde vorübergeh­end verstärkt der vielen, zuvor vergessene­n sowjetisch­en Kriegsopfe­r gedacht. Unter Putin steht wieder allein das Heroische im Vordergrun­d. Stalin erscheint erneut als Kriegstriu­mphator und nicht als brutaler Menschensc­hlächter, der er eigentlich gewesen war. Weniger die Wunden, vielmehr die Siege der Sowjetunio­n gelten heute als erinnerung­swürdig. Mit der Parole „Kampf gegen den Faschismus“und der Aktualisie­rung der Weltkriegs­erfahrung kann der Kreml heute erfolgreic­h seine Interventi­onen in der Ukraine legitimier­en. Das zeigt, wie lebendig und politisch leicht instrument­alisierbar der in Russland sogenannte „Große Vaterländi­sche Krieg“noch ist.

 ?? FOTO: UNI TÜBINGEN ?? Klaus Gestwa, Professor am Institut für Osteuropäi­sche Geschichte in Tübingen.
FOTO: UNI TÜBINGEN Klaus Gestwa, Professor am Institut für Osteuropäi­sche Geschichte in Tübingen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany