Literatur als Modus der Wahrhaftigkeit
Thomas Hettche plädiert in den Essays des Bandes „Unsere leeren Herzen“für einen neuen Realismus
Nein, ein Kulturpessimist ist Thomas Hettche nicht. Eher das Gegenteil. Das liegt in seiner Sozialisation begründet. Mit Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“eröffnete sich ihm als Kind eine neue Welt. Die Bücher, die ihm seine Deutschlehrerin zusteckte, halfen ihm, der Enge des Elternhauses und der Provinz zu entfliehen. Der Vater im hessischen Dörfchen Treis beobachtete das voll Misstrauen und hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn Handwerker geworden wäre.
Auch in den 21 Essays des Bandes „Unsere leeren Herzen“gibt sich Thomas Hettche ganz als Idealist und plädiert in einer Zeit der virtuellen Medien für einen neuen Realismus in der Literatur. Denn um die geht es ihm in fast allen Texten. Ludwig Wittgenstein kommt zu Wort, Georg Lukács, Theodor W. Adorno, Wolfgang Koeppen und auch wieder Ernst Jünger, dem der 1964 geborene Hettche schon im Essayband „Totenberg“(2012) nachspürte. Nicht zu vergessen: Wilhelm Raabe, mit dem sich Hettche als Träger des Raabe-Literaturpreises von 2014, wie man merkt, recht ausgiebig auseinandergesetzt hat.
Texte nehmen Bezug zueinander
Das Buch ist keine zusammengestoppelte Sammlung von Aufsätzen und Artikeln, die in Zeitungen erschienen sind, sondern ein in sich geschlossenes Werk, in dem einzelne Texte aufeinander Bezug nehmen und sich ergänzen. Im westfälischen Minden, wo ihn eine Lesereise hinführt, besucht Hettche den romanischen Dom und ihm wird bewusst, wie leer das Gotteshaus ist. Na klar, in einer säkularen Epoche wie der, in der wir heute leben, kein Wunder. Aber: „Können wir unsere Gesellschaft tatsächlich weiter als säkular denken?“, fragt er sich in einer Zeit, in der sich fast jede Woche irgendwo ein Anschlag auf die Freiheit ereignet. „Indem der Terror zu unserer Wirklichkeit wird, zeigt er die Lügenhaftigkeit einer Realität, von der man versprach, sie komme ohne Opfer und Transzendenz aus.“Hat sich die Moderne mit all ihren wissenschaftlichen und humanistischen Errungenschaften nicht selbst überlebt?
Der digitale Raum des Internets, da ist sich Hettche sicher, ist nicht nur ein Rückzugsort des Terrors, nein, er bringt ihn hervor. Der tägliche Blick auf den Bildschirm führe zu narzisstischem Verhalten und Vereinsamung, aus denen auch die sozialen Medien keinen Ausweg bieten.
Gerade deswegen sei Literatur wichtig. „Selbst wenn die Liebe, die wir in uns haben, keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt mehr findet, bleibt uns die Gemeinschaft der Texte“, so Hettche. Literatur sollte deshalb allen zugänglich sein. Sie brauche kein ästhetisches Programm, müsse nicht der Verbesserung der Welt dienen, sie sei selbst Mittel – „Lebensmittel“.
In dem Moment, heißt es einmal, „in dem wir uns als reale Menschen schmerzhaft in den Datennetzen verfangen, verlieren die Versprechungen der Freiheit im Virtuellen alle Glaubwürdigkeit, und die Realität wird wieder zum wichtigsten Ort auf dieser Welt“. Der Realismus von Wilhelm Raabe ist Hettche darum lieber als die Selbstbespiegelung des Norwegers Karl Ove Knausgård, der stets betone, dass eine vollständig fiktionalisierte Welt keine Geschichten mehr brauche, und sich stattdessen immer und immer wieder des eigenen „Ichs“vergewissere. In dieser „Authentizitätsbehauptung“sieht Hettche nur eines dieser „zirzensischen Formate“mehr, das er auf allen medialen Ebenen wahrnimmt. „Literatur, wie ich sie verstehe, steht dagegen. In einer Zeit, in der die Dinge dieser Welt sich ebenso aufzulösen drohen wie wir uns in den digitalen Surrogaten dessen, was einmal unsere Innenwelt war, muss Literatur vor allem ein Modus der Wahrhaftigkeit sein.“
Leser wird gefordert
Thomas Hettches Essays sind tastende Bewegungen im leeren Raum, denen der Leser nicht immer leicht folgen kann. Er ist der letzte Vertreter in der langen Reihe des deutschen Idealismus. Nicht immer möchte man mit ihm gehen. Aber wenn man es tut, wird man belohnt. Ein Bestseller wie der Roman „Pfaueninsel“(2014) wird sein neuer Essayband, sein dritter übrigens, bestimmt nicht werden. Dafür ist er zu intellektuell, mancher Gedankengang zu verdrexelt. Das Buch ist eher etwas für Germanistikstudenten und Liebhaber des Literaturbetriebes.
Eigentlich also gar nicht das, was der Autor selbst favorisiert, der sich immer wieder auch zur Krimi- oder Unterhaltungsliteratur bekennt und mit „Der Fall Arbogast“(2001) einen Bestseller landete. Es mutet fast so an, als habe Hettche sich selbst ein poetologisches Programm verordnet, an dem er sich bei zukünftigen Romanen orientieren kann.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 208 Seiten, 20 Euro.