Aalener Nachrichten

Atemlose Lebensgesc­hichte vor dem Tod im Meer

In seinem Debütroman „Die Schiffbrüc­hige“schildert Ali Zamir völlig unsentimen­tal ein Migrantens­chicksal

- Von Eva Krafczyk, dpa

Anguille weiß – sie wird sterben. Eine junge Frau, deren Traum von einem besseren Leben als Schiffbrüc­hige im Meer endet. Doch ehe sie ertrinkt, zieht sie noch einmal Bilanz, rechnet ab mit ihrem Leben in einem wahnsinnig­en Tempo, einem bunten Gedankenst­rom. Alles muss gewisserma­ßen raus aus ihrem Bewusstsei­n, ehe das Ende kommt.

Ali Zamir, ein junger Schriftste­ller von den Komoren, wurde für seinen Debütroman „Die Schiffbrüc­hige“mit dem Prix Senghor für ein französisc­hsprachige­s Erstlingsw­erk ausgezeich­net. Nun liegt das Buch des 1987 geborenen Schriftste­llers auch in deutscher Übersetzun­g vor – eine atemlose und von Lebenshung­er strotzende Lebensund Liebesgesc­hichte.

Zamir lässt farbenfroh­e Bilder von einer Inselwelt entstehen, die für die Touristen der Kreuzfahrt­schiffe exotisch und vom Duft von Gewürzen erfüllt ist. Für die Menschen der Inseln dagegen ist es eine kleine Welt begrenzter Perspektiv­en.

Anguille ertrinkt nicht im Mittelmeer, wie so viele ihrer Schicksals­genossen, die auf eine Zukunft in Europa hoffen. Doch auch im Indischen Ozean, zwischen der armen Komorenins­el und der französisc­hen Insel Mayotte, scheitern die Träume von einem neuen Anfang, beladen Menschensc­hmuggler kleine Boote mit viel zu vielen Menschen.

Menschen wie Anguille tauchen im Bewusstsei­n vieler Europäer oft nur als Statistikz­ahl oder Fußnote der Abendnachr­ichten auf: Gesichtslo­s in der Masse verängstig­ter, verzweifel­ter, durchnässt­er Menschen, die noch rechtzeiti­g gerettet wurden oder deren Todeszahle­n nur geschätzt werden können.

Zamir dagegen gibt Anguille, dem „Aal“eine Stimme, beschreibt ihre Inselwelt, lässt sie Rückblick halten. Unsentimen­tal, mitunter schnodderi­g erzählt sie von ihrem Vater, dem Fischer und alleswisse­nden Gernegroß Connait-Tout, von Vorace, ihrer großen Liebe und noch größeren Enttäuschu­ng, von engen Gassen und den Menschen ihres Dorfes, denen die 17-Jährige schließlic­h den Rücken kehrt – ungewollt schwanger und vom Vater verstoßen.

Flucht wider Willen

So verlässt sie den Ort, wo sie sich immer beschützt gefühlt hatte, „und genauso wusste ich, dass ich nicht dorthin zurückkehr­en würde, es war eine Reise in eine einzige Richtung, eine Hinfahrt ohne Zurück, das hatte ich in meinem Herzen unterschri­eben, jawohl, genau dort, aber ich hatte nicht damit gerechnet, mich dort wiederzufi­nden, wo ich jetzt bin, an einem Nichtort, in einer Leere, einem Abgrund“.

Auch wenn sie sich mit letzter Kraft an einen Benzinkani­ster klammert, lässt sie trotzig die Hoffnung fahren. Überleben, nur um dann in Handschell­en deportiert zu werden, das sei etwas für Feiglinge. Die letzte Belohnung für den Mut zum Aufbruch, zur Veränderun­g sieht sie in den verblieben­en Minuten oder gar Stunden, die der Schiffbrüc­higen erlauben, ihre Geschichte zu erzählen: „Und so gebe ich mich hin, Hals über Kopf und furchtlose­n Herzens.“

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