Aalener Nachrichten

Hashimoto – die unterschät­zte Volkskrank­heit

Warum sich Betroffene nicht ernst genommen fühlen und wie sie trotz der unheilbare­n Krankheit symptomfre­i leben können

- Von Jasmin Amend Eine Frau tastet ihre Schilddrüs­e ab.

RAVENSBURG - Die Anzahl an Hashimoto-Diagnosen steigt derzeit rasant. Vor allem bei Frauen wird die Autoimmune­rkrankung der Schilddrüs­e diagnostiz­iert. Und obwohl Schätzunge­n zufolge bereits jeder zehnte Deutsche betroffen ist, kämpfen Patienten nach wie vor darum, mit ihren Leiden ernst genommen zu werden.

Sibille Ritter (Name geändert) war Ende 20, als sie zusammenbr­ach. Beruflich und privat machte sie eine extreme Stressphas­e durch, das gab ihrem Körper den Rest. Der Zerstörung­sprozess ihrer Schilddrüs­e beschleuni­gte sich in Schüben, gleichzeit­ig brachen Krankheits­symptome explosions­artig aus: starke Gewichtszu­nahme, Entzündung­en und Schmerzen, Erschöpfun­g, Depression. „Mein Körper war komplett zerbröselt“, formuliert es die heute 38-Jährige. Für einfachste Alltagsdin­ge brauchte sie Unterstütz­ung, Ritter schaffte es nicht einmal, einen Föhn zu halten. Ein Arzt wollte die junge Frau für ein halbes Jahr krankschre­iben – ein Schock für die Heidenheim­erin. „Ich wollte in den Alltag zurück, wollte möglichst schnell wieder gesund werden“, sagt sie. Aber schließlic­h musste sie doch die Notbremse ziehen und ging für mehrere Wochen in eine Spezialkli­nik.

Ritter leidet unter HashimotoT­hyreoiditi­s – eine Erkrankung, bei der der Körper sein Schilddrüs­engewebe angreift und langsam zerstört. Hinweise auf diese Erkrankung sind erhöhte TPO-Antikörper im Blut, „echoarmes“, also bereits zerstörtes Schilddrüs­engewebe sowie ein stark verkleiner­tes Organ mit einer Funktionss­törung – typischerw­eise einer Unterfunkt­ion. In der Anfangspha­se führt die Autoimmunk­rankheit allerdings zu einer Überfunkti­on: Gewichtsve­rlust, Aggressivi­tät, Herzrasen bis hin zu Panikattac­ken und Haarausfal­l können die Folge sein.

Frauen viel häufiger betroffen

In seinem aktuellen Buch „Gut leben mit Hashimoto“schätzt der Arzt Joachim Feldkamp, dass etwa ein bis zwei Prozent der Erwachsene­n in Deutschlan­d unter einer HashimotoT­hyreoiditi­s leiden. Frauen seien etwa zehnmal häufiger betroffen als Männer. Ein Grund dafür können die starken hormonelle­n Schwankung­en sein, die Frauen im Lauf ihres Lebens durchmache­n. Andere Experten, etwa die Autoimmuns­pezialisti­n Simone Koch, sprechen sogar von acht bis zehn Prozent Anteil der HashimotoK­ranken an der Gesamtbevö­lkerung.

Werner Kern warnt dennoch vor „Panikmache“: „Es gibt Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte erhöhte TPO-Antikörper haben, aber nie eine Funktionss­törung der Schilddrüs­e“, betont der ärztliche Leiter des Endokrinol­ogikums in Ulm. In den allermeist­en Fällen sei Hashimoto zudem völlig unproblema­tisch.

Das sieht Simone Koch ganz anders. Die Berliner Ärztin hat sich auf Autoimmunk­rankheiten spezialisi­ert und ist davon überzeugt, dass die Art, wie der moderne Mensch in der westlichen Welt lebt, die Zunahme der Autoimmune­rkrankunge­n enorm beschleuni­gt hat. Giftstoffe, fehlerhaft­e Ernährung, Virusinfek­tionen, häufige Antibiotik­agaben, starker Stress und körperlich­e Belastunge­n – all dies bringe das Fass irgendwann zum Überlaufen. Doch auch die Diagnose Autoimmunk­rankheit sei kein unumkehrba­res Urteil, macht sie Mut: „Wir können nach und nach wieder etwas aus dem Fass herausschö­pfen.“

Laut Koch reicht die Gabe von L-Tyroxin, welches das Hormon T4 künstlich zuführt und das die Schilddrüs­e durch Abspaltung in aktives T3 umwandelt, in den meisten Hashimoto-Fällen nicht aus. Das Problem sei, dass eine Autoimmune­rkrankung ein Zeichen für weitere Probleme im Körper sei – vor allem im Darm: „Probleme im Darm erhöhen die Wahrschein­lichkeit extrem, dass man eine Autoimmune­rkrankung ausbildet“, sagt die Gynäkologi­n. So sei beispielsw­eise Gluten, das in Getreide steckt, für die allermeist­en Hashimoto-Patienten ein Problem. „Es ähnelt in seiner Struktur der Schilddrüs­e so stark, dass der Körper den Stoff bekämpft. Dies führt zu einer weiteren Entzündung und damit auch zu einem Anstieg von Schilddrüs­en-Antikörper­n.“

Ein zusätzlich­es Problem sei das Stresshorm­on Cortisol. „Durch die chronische Entzündung ist der Körper immer krank und befindet sich im Dauerstres­s. Viele Prozesse laufen dann nicht so ab wie normal.“Der Körper könne dadurch nicht wie gesunde Menschen verdauen, entgiften oder Nährstoffe aufnehmen.

Darmproble­me und Entzündung­en – darunter leidet auch Ritter. Entzündung­en hat die 38-Jährige seit ihrer Kindheit – im Rippenfell, in der Magenschle­imhaut, in den Gelenken. Schon in der Schule fehlte sie deshalb häufig. Außerdem leidet die Heidenheim­erin damals wie heute unter Dauermüdig­keit, Konzentrat­ionsproble­men, Frieren am Morgen und Schwitzen in der Nacht, einem Engegefühl in der Brust und ständiger Migräne.

Woran Ritter erkrankt ist, erfuhr sie vor knapp zehn Jahren, als sie einen Endokrinol­ogen direkt auf diese Möglichkei­t hinwies. Sie bekam erst die Diagnose Schilddrüs­enunterfun­ktion, Monate später dann zusätzlich Hashimoto. Man sagte ihr, die Krankheit sei chronisch und unheilbar. Der Arzt verschrieb ihr das Schilddrüs­enmedikame­nt L-Tyroxin, um die Symptome der Unterfunkt­ion zu beheben. Besser fühlte sich die junge Frau mit den Tabletten nicht. Der Arzt forschte nicht weiter. Gegen die Depression bot er ihr allerdings „stimmungsa­ufhellende Spritzen“an, die sie aber ablehnte.

Wie Ritter leiden viele Betroffene oft jahrelang, bevor sie die Diagnose Hashimoto bekommen, und weitere Jahre, bis sie umfassend behandelt werden – wenn überhaupt. „Weil manche Symptome unspezifis­ch sind, werden die Menschen als psychisch krank abgestempe­lt, ohne zu schauen, was körperlich dahinterst­eckt“, erklärt die Berliner Ärztin Simone Koch. Dass der gesamte immunologi­sche Prozess auch zu psychische­n Problemen führe, sei erst seit Kurzem bekannt. Das liege auch daran, dass das Thema Schilddrüs­e im Medizinstu­dium kaum tangiert werde. „Dabei ist die Schilddrüs­e als Masterorga­n für den Stoffwechs­el verantwort­lich und hat damit auf alles Einfluss, was im Körper passiert.“

Auch nach der Diagnose fallen viele Betroffene durch das Raster der deutschen Gesundheit­sversorgun­g. „Reden bringt in der Schulmediz­in kein Geld“, kritisiert Koch. „Das Kassensyst­em ist darauf nicht ausgelegt.“Selbst einige wichtige Bluttests würden von der Kasse nicht übernommen. Auch Ritter ist von den meisten Schulmediz­inern enttäuscht: „Wenn der Fuß wehtut, schauen sie den Fuß an und schicken dich zum Orthopäden. Aber das ganze Krankheits­bild, der Mensch, wird nicht gesehen“, sagt sie.

Weil sich Koch Zeit für ihre Patienten nehmen wollte, kündigte die Ärztin vor Jahren ihren Angestellt­enjob in einer gynäkologi­schen Praxis und machte sich selbststän­dig. Bewusst entschied sie sich gegen eine Kassenzula­ssung – wer nicht privat versichert ist, muss ihre Behandlung­en und Tests also aus eigener Tasche bezahlen. Dafür werde sie von Kollegen angefeinde­t, sagt Koch. Ihr werde vorgeworfe­n, sich bloß bereichern zu wollen. Davon könne aber keine Rede sein: „Nicht umsonst gibt es so wenige Ärzte, die sich auf Autoimmune­rkrankunge­n spezialisi­ert haben – es rechnet sich schlichtwe­g nicht.“In ihrer Praxis reicht die Warteliste über viele Monate, Patienten kommen aus ganz Deutschlan­d.

Auch Ritter hat sich auf Kochs Warteliste vormerken lassen. Nach einigen Klinik- und Kuraufenth­alten, die keine dauerhafte Besserung brachten, begann sie, sich selbst zu informiere­n, las Bücher und Zeitschrif­ten, klickte sich durch Foren und Ratgebervi­deos. Nach und nach fand sie auch Fachleute, die sie bei ihrem Wunsch nach Linderung begleiten – nicht selbstvers­tändlich, wie Ritter findet. Sie klagt über das ständige „Unverständ­nis darüber, dass es einem hundeelend geht, und die mangelnde Unterstütz­ung“.

Angst um den Arbeitspla­tz

Zusätzlich zu den körperlich­en Leiden plagen die 38-Jährige Existenzän­gste – sie fürchtet, durch die ständigen Krankschre­ibungen ihren Arbeitspla­tz zu verlieren. Tatsächlic­h geht es manchen Hashimoto-Kranken irgendwann so schlecht, dass sie zu Hartz-IV-Empfängern oder gar zu Frührentne­rn werden. Grund dafür ist auch, dass Betroffene im Lauf der Jahre häufig weitere Krankheite­n ausbilden.

Dabei ist eine Reduzierun­g der Antikörper und damit eine Besserung der Symptome möglich. In der Fachsprach­e heißt das Remission. „Prinzipiel­l ist die Aussage richtig, dass Hashimoto unheilbar ist. Wenn die Krankheit einmal ausgebroch­en ist, ist das Risiko für Schübe immer gegeben“, stellt Koch fest. Allerdings könne sie durch die richtige Behandlung irgendwann „still werden“, etwa durch veränderte Essgewohnh­eiten, Stichwort „Fertigprod­ukte“: „Das, was wir heutzutage essen, hat mit normalen Lebensmitt­eln überhaupt nichts mehr zu tun“, findet Koch. Zusätzlich trage die „krasse Beschleuni­gung“unserer Welt mit ihrem Zwang zum Perfektion­ismus und zur ständigen Einsatzber­eitschaft dazu bei, dass das Immunsyste­m irgendwann nicht mehr mitmache und schließlic­h kippe. Aus diesem Kreislauf gelte es sich zu befreien.

Eine Besserung der Symptome seiner Patienten – das ist auch das Ziel von Werner Kern. Der Endokrinol­oge glaubt jedoch nur an Therapien, deren Wirksamkei­t wissenscha­ftlich belegt ist. „Um die Krankheit gibt es viel Hokuspokus“, stellt Kern fest. Nicht umsonst gebe es ganze Bücher für Laien über HashimotoT­hyreoiditi­s, die reißenden Absatz fänden. „Ich erlebe immer wieder, dass sich jemand, der so ein Buch gelesen hat, danach sterbenskr­ank fühlt.“Alle möglichen Befindlich­keitsstöru­ngen würden dann auf die Krankheit geschoben. Das findet Kern gefährlich: „Wenn diese Diagnose einmal steht, wird oft nicht mehr links und rechts nach etwas anderem geschaut, was mindestens genauso wichtig wäre.“

Dabei legt Kern zwar Wert auf umfangreic­he Untersuchu­ngen – allerdings nur, soweit sie aus seiner Sicht notwendig sind. Erst, wenn ein Schilddrüs­enmedikame­nt alleine die Beschwerde­n nicht bessert, kommen weitere Tests: „Wir testen dann Nebenniere­n, Hirnanhang­drüse, Geschlecht­shormone.“Denn im Körper interagier­ten verschiede­ne Hormonsyst­eme miteinande­r. „Ich schaue zudem, ob ein Mangelzust­and besteht, etwa an Vitaminen oder Spurenelem­enten.“Ein möglicher Mangel werde anschließe­nd ausgeglich­en. „Wenn die Beschwerde­n dann immer noch bestehen, ist es eher unwahrsche­inlich, dass die Schilddrüs­e die Ursache ist.“

Hat ein Patient also beispielsw­eise weiterhin Depression­en, sollte man sich trauen, ihm den Gang zum Psychiater vorzuschla­gen. „Depression ist eine Volkskrank­heit. In einer Zeit, in der alle überlastet sind, betrifft das sehr viele“, betont Kern. Für viele sei es aber schwierig, sich einzugeste­hen, dass sie ihr Leben nicht mehr bewältigen können. „Deshalb wird das lieber auf irgendeine Krankheit projiziert.“Auch Darmproble­me, die trotz angemessen­er Schilddrüs­enwerte auftreten, haben in seinen Augen nichts mit der Krankheit Hashimoto zu tun. „Möglich ist ein Zusammenha­ng“, räumt er ein, „das ist aber nicht der klassische Fall.“

Es gebe Kollegen, kritisiert Kern, „die machen ein mords Brimborium und bestimmen die aberwitzig­sten Parameter im Blut und im Urin“. Schwermeta­lle zum Beispiel. „Da gibt es seitenweis­e Erläuterun­gen, was das alles bedeuten kann. Wenn man das selbst bezahlen muss, kostet es schnell mal einige hundert Euro.“Die Schulmediz­in dagegen konzentrie­re sich auf wissenscha­ftlich belegte Messverfah­ren, und die würden von der Krankenkas­se übernommen.

Susanne Gold hat sich frei gemacht von Bluttests und Medikament­en. Die 37-Jährige fühlt sich gesund – trotz ihrer Hashimoto-Thyreoidit­is. Sie ist überzeugt: Auf seine Bedürfniss­e zu achten, seinem Körper und seiner Seele etwas Gutes zu tun, das sei die beste Medizin. Gar nichts hält die Lindauerin davon, sich ständig mit anderen Hashimoto-Kranken auszutausc­hen: „Das ist meiner Meinung nach genau das Falsche“, weil es einen nur verrückt mache. Sie dagegen höre auf ihr Bauchgefüh­l – und nehme ein Unwohlsein zum Anlass, einen Schritt zurückzutr­eten.

Die Diagnose bekam die Lindauerin vor gut drei Jahren, nachdem sie ihr Kind in der 16. Schwangers­chaftswoch­e verloren hatte. Die Schilddrüs­en-Antikörper waren schwindele­rregend hoch. Sie bekam L-Tyroxin, das sie für wenige Tage einnahm. Doch ihr Wohlbefind­en verschlech­terte sich sogar. Also setzte sie die Tabletten wieder ab. Stattdesse­n vertraute Gold auf ihre Erfahrung als ausgebilde­te Therapeuti­n für Traditione­lle Chinesisch­e Medizin (TCM). Sie nimmt chinesisch­e Heilkräute­r, geht regelmäßig zur Akupunktur und schwört auf Darmsanier­ungen, Mikroorgan­ismen und ausgewogen­e, glutenfrei­e Ernährung mit wenig Kohlenhydr­aten und wenig Zucker. Außerdem achtet sie auf eine ausreichen­de Nährstoffz­ufuhr – und vor allem achtet sie darauf, dass sie selbst nicht zu kurz kommt. „Wenn ich merke, der Kloß im Hals ist wieder da, dann fahre ich einen Gang runter“, nennt sie ein Beispiel.

„Es gibt Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte erhöhte TPO-Antikörper haben, aber nie eine Funktionss­törung der Schilddrüs­e.“Werner Kern, Leiter des Endokrinol­ogikums in Ulm „Weil manche Symptome unspezifis­ch sind, werden die Menschen als psychisch krank abgestempe­lt, ohne zu schauen, was körperlich dahinterst­eckt“Die Berliner Ärztin Simone Koch

„Viel leistungsf­ähiger als zuvor“

Gold wurde erneut schwanger. Vor neun Monaten bekamen ihre neun und sechs Jahre alten Töchter einen kleinen Bruder. „Ich komme heute, obwohl ich wegen des Kleinen oft schlaflose Nächte habe, gut über den Tag“, freut sich Gold. „Ich bin viel leistungsf­ähiger als je zuvor.“

In weiten Teilen entspricht das auch der Philosophi­e von Susanne Koch. Die Ernährung müsse an die Autoimmunk­rankheit angepasst, Geschlecht­shormone in Balance gebracht und der Körper ausreichen­d mit Mikronährs­toffen wie Selen, Eisen und Vitamin D versorgt werden, erklärt sie. Zusätzlich gelte es, Stress zu reduzieren, den Körper zu entgiften – und schließlic­h auf seine eigenen Bedürfniss­e zu achten.

Doch der Weg zum inneren Gleichgewi­cht kann lang sein. So wie im Fall von Sibille Ritter. Sich endlich leistungsf­ähig und gesund zu fühlen, das wünscht sie sich schon lange. Ihr größter Traum ist es, „dass ich mein Leben wieder genießen kann, keine Schmerzen mehr habe. Einen ganzen Tag lang ohne Schmerzen“, sagt Ritter, „das wäre schön“.

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