Aalener Nachrichten

In der moralische­n Zwickmühle

Kriegsfoto­graf James Nachtwey wird 70

- Von Johannes Schmitt-Tegge

NEW YORK (dpa) - Mal wieder suchten die Fotoredakt­eure bei der „New York Times“passende Bilder zum verheerend­en Krieg in Syrien, mal wieder schien ein Motiv besonders passend: ein Mann rennt mit einem blutenden Kind auf dem Arm durch den Schutt, offenbar kurz nach einem Bombenangr­iff. Das Foto wurde gedruckt. Das Problem war nur: In den Wochen zuvor hatte die Zeitung aus Syrien sehr ähnliche Fotos gedruckt. Die „Times“gestand bald selbstkrit­isch ein: „Neuartige Fotos sind inmitten brutaler Luftangrif­fe nicht leicht zu machen.“

Die Herausford­erungen der Kriegsfoto­grafie sind enorm, nicht nur wegen der hohen Gefahr für die Fotografen. Schneller denn je werden ihre Bilder heute verbreitet, und auch die Fotografie ist vor „Fake News“dank digitaler Bildbearbe­itung nicht geschützt. Lesern bleiben am Ende einer Geschichte oft nur ein oder zwei Fotos im Gedächtnis - Fotografen tragen unzählige Bilder des Grauens über Jahre oder sogar ein Leben lang mit sich.

Er zählt zu den Besten des Genres

„Ich bin ein Zeuge, und diese Fotos sind mein Geständnis“, schreibt der vielfach ausgezeich­nete US-Kriegsfoto­graf James Nachtwey auf seiner Webseite. „Die Geschehnis­se, die ich aufgenomme­n habe, sollen nicht vergessen und dürfen nicht wiederholt werden.“70 Jahre alt wird Nachtwey heute. Er zählt zu den Besten des Genres und sah sich stets auch in einer Art moralische­n Verantwort­ung. „Ein Foto, dass das wahre Bild des Krieges zeigt, ist ein Anti-Kriegsfoto“, sagte er dem TV-Sender Euronews im Jahr 2016.

Krieg, Hunger, Epidemien, Terror – mit seinen Kameras fing Nachtwey das Leid der Menschen ein. Afghanista­n, Aids, Bosnien, Ruanda, Tschetsche­nien, Israel, 9/11 oder „Pakistan Heroin“sind die Serien auf seiner Webseite nüchtern betitelt. Für den im Staat Massachuse­tts aufgewachs­enen Amerikaner waren es die bewegenden Fotos vom Vietnamkri­eg und der schwarzen Bürgerrech­tsbewegung, die ihn den Entschluss fassen ließen, profession­eller Fotograf zu werden. „Die Menschen müssen wissen, was in der Welt passiert“, sagt er.

Die Technik mag moderner geworden sein, doch Tod und Zensur lauern noch immer. „Eine freie Presse ist das erste Kriegsopfe­r“, schreibt das „Time“-Magazin in einem Dossier zu Syrien. Ausländisc­hen Journalist­en wird der Zugang zu entscheide­nden Gebieten verwehrt, sie werden gekidnappt und hingericht­et. Mehr als 130 Journalist­en wurden dem unabhängig­en Committee to Protect Journalist­s (CPJ) zufolge in Syrien seit Beginn des dortigen Bürgerkrie­gs getötet.

Auch das moralische Dilemma bleibt. „Das Schlimmste ist der Eindruck, als Fotograf von der Tragödie eines anderen zu profitiere­n“, sagt Nachtwey. Reporter in Konflikten und Katastroph­en weltweit dürften wie er damit kämpfen, dass sie den Opfern vor Ort zwar Mitgefühl zeigen können, dass unterm Strich aber die Jagd nach dem besten Bild oder dem besten Bericht zählt. Und nicht in jedem wecken Nachtweys Fotos Empathie: Bei ihr rege sich vielmehr Abscheu, schreibt Journalism­us-Professori­n Susie Linfield von der New York University – aber vielleicht ist das auch gerade Nachtweys Absicht.

„Wir riskieren unser Leben, um die Welt das systematis­che Töten des Assad-Regimes gegen Zivilisten hören zu lassen“, schreibt Andrew Katz im „Time“-Magazin mit Blick auf Syriens Präsident Baschar al-Assad. „Es ist wie der Schrei nach Hilfe in einem Brunnen, wo niemand dich hört. Kann uns irgendjema­nd hören?“

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FOTO: DPA Der New Yorker Fotograf James Nachtwey vor seinen Bildern.

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