Zur falschen Zeit am falschen Ort
Der Journalist Richard Gutjahr ist mit dem Hass wirrer Internetnutzer konfrontiert
MÜNCHEN (dpa/sz) - Richard Gutjahr wurde Zeuge eines Anschlags und eines Amoklaufs. Seither belästigen ihn Verschwörungstheoretiker, die glauben, dass das kein Zufall war. Das Gesetz ist auf Gutjahrs Seite – in der Realität hilft ihm das aber wenig.
Seit rund 20 Monaten kämpft Richard Gutjahr gegen die kruden Thesen von Internetnutzern, gegen Hasskommentare und Videos im Netz. Hetze, die sich schon lange nicht mehr ausschließlich gegen ihn richtet, sondern auch seine Frau und Tochter betrifft. Mit beiden macht er 2016 Urlaub in Frankreich, als sein Leben beginnt, eine unerwartete Wendung zu nehmen. Zufällig wird er am 14. Juli Zeuge des Terroranschlags in Nizza, bei dem 86 Menschen ihr Leben verlieren. Er filmt und berichtet als Journalist des Bayerischen Rundfunks (BR) für die ARD darüber. Nur acht Tage später wird Gutjahr wieder Zeuge des Amoklaufs am Olympia-Einkaufszentrum in seiner Heimatstadt München mit neun Toten. Er berichtet erneut.
An Zufälle wollen Verschwörungstheoretiker nicht glauben. Sie sprechen von „inszenierten Terroranschlägen“und werfen dem Journalisten unter anderem vor, Mitarbeiter eines Geheimdienstes zu sein und von den beiden Attentaten gewusst zu haben. Sein Ziel? Nichts Geringeres als die Weltherrschaft.
Seitdem nehmen die Verleumdungen und Drohungen kein Ende. In einem Blogbeitrag wandte sich der 44-Jährige darum an die Öffentlichkeit. In „Unter Beschuss“beschreibt er seine Situation und den Kampf gegen den „Shit-Tsunami“. Dabei habe er zunächst eine ganz andere Strategie gehabt, sagt er: „Bloß nicht weiter in Erscheinung treten, zurückziehen, einigeln, warten bis sich der Sturm legt“, erklärt Gutjahr. Doch das sei der größte Fehler gewesen, es habe die Sache nicht besser gemacht, sondern schlimmer.
„Wenn du Dinge unkommentiert stehen lässt, tauchen sie immer und immer wieder auf“, sagt der Journalist und meint damit vor allem die Videos auf Facebook und YouTube, die ihn und seine Familie etwa als Teil eines geheimen Netzwerks von Agenten darstellen. Besonders erschreckt hat ihn die Tatsache, dass viele der Hetzer unter ihrem echten Namen posten. „Als sei es völlig okay, Menschen öffentlich auf Facebook in die Gaskammer zu wünschen.“
Gutjahr klagt vor Gericht. Das aber nur mit begrenztem Erfolg. Viele seiner „Peiniger“ignorierten die Urteile einfach. Auch das Anfang des Jahres in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das Hass im Netz unterbinden soll, helfe nur bedingt. Gut sei, dass soziale Netzwerke wie Facebook nun auch juristische Anlaufstellen in Deutschland hätten. Sicher ist er sich aber: „Einen Großteil der Probleme hätten wir gar nicht, wenn wir schon vorhandene Gesetze im Netz anwenden würden.“Derzeit werde das nur teilweise gemacht. Der Staat lagere mit dem „Netz-DG“die Rechtsprechung quasi an Facebook und Co. aus.
Auch in den USA ein Phänomen
Der Journalist ist nicht der einzige, der mit Hassbotschaften im Internet zu kämpfen hat. In den USA ist es gang und gäbe, dass die Opfer von Waffengewalt von Verschwörungstheoretikern belästigt werden: Manche Menschen glauben, dass die Regierung ihnen die Schusswaffen wegnehmen will und dazu Amokläufe inszeniert. Die Überlebenden von Massakern wie an der Sandy Hook Grundschule 2012 oder den tödlichen Schüssen in einer Kirche in Sutherland Springs werden als „crisis actors“beschimpft, als Schauspieler, die den „Eliten“zu Diensten sind. Auch Überlebende wie Emma Gonzalez und die anderen Jugendlichen, die jüngst unter dem Eindruck des Schulamoklaufs von Florida den „March for Our Lives“initiiert haben, werden auf diese Weise diskreditiert. Zur Verbreitung solcher Thesen trägt auch das Netz bei, in dem sich Fake News ungehindert über den Globus verbreiten können.
Gutjahr ist trotzdem überzeugt, dass die Vorteile durch die Vernetzung größer seien als die Nachteile. „Wir haben durch die schönen neuen Geräte Zugriff auf Informationen, wie sie vor 20 oder 25 Jahren vielleicht nur Staatschefs oder Universitäten hatten.“Das sei das Positive. Und das Negative? „Dass man so ein Instrument natürlich auch als Waffe verstehen muss.“Und den verantwortungsvollen Umgang damit hätten wir alle nicht beigebracht bekommen.