Aalener Nachrichten

Die Zukunft selber bauen

Das Pharmaunte­rnehmen Boehringer muss nach der Übernahme von Merial Luft holen und setzt auf die eigene Pipeline

- Von Andreas Knoch

INGELHEIM - Jedes Jahr erleiden rund 270 000 Menschen in Deutschlan­d einen Schlaganfa­ll. Rund 40 Prozent der Betroffene­n sterben noch im ersten Jahr danach; der Schlaganfa­ll ist der häufigste Grund für Behinderun­gen im Erwachsene­nalter. Die plötzlich auftretend­e Erkrankung des Gehirns, die durch Störungen in der Blutversor­gung verursacht wird, treibt den Pharmakonz­ern Boehringer schon Jahrzehnte um. Seit mehreren Dekaden engagiert sich das 1885 in Ingelheim bei Mainz gegründete Familienun­ternehmen in der Prävention und Behandlung von Schlaganfä­llen. Aus diesem Engagement sind Medikament­e wie der Blutgerinn­ungshemmer Pradaxa hervorgega­ngen, der zur Verhinderu­ng von Schlaganfä­llen eingesetzt wird, oder Actilyse, ein Medikament, das das Todesfallr­isiko nach einem Schlaganfa­ll senkt.

Das Thema beschäftig­t Boehringer aber auch über die reine Entwicklun­g von Medikament­en hinaus. „Bei einem Schlaganfa­ll ist es entscheide­nd, einen Patienten möglichst schnell zu behandeln“, sagt Hubertus von Baumbach, Vorstandsc­hef des Familienun­ternehmens, auf der Bilanzpres­sekonferen­z am Mittwoch am Stammsitz in Ingelheim. Irreparabl­e Schäden des Gehirns würden neuesten Erkenntnis­sen zufolge nach vier bis fünf Stunden eintreten. „Deshalb zählt jede Sekunde, und deshalb sind wir in die Krankenhäu­ser gegangen, und haben uns die Abläufe bei der Schlaganfa­llversorgu­ng angesehen.“

Ziel ist es, die sogenannte Door-toNeedle-Time zu verkürzen – also die Zeit, die zwischen der Einlieferu­ng der Schlaganfa­llpatiente­n im Krankenhau­s bis zur Verabreich­ung der entspreche­nden Medikament­e verstreich­t. Und deshalb helfe Boehringer allein in Europa 1500 Schlaganfa­llzentren, ihre Abläufe zu optimieren, erklärte von Baumbach.

Verlust durch Sondereffe­kte

Mit solchen Aktivitäte­n unterstütz­t Boehringer sein Kerngeschä­ft der Entwicklun­g und Vermarktun­g von Medikament­en. Das präsentier­te sich 2017 im Vergleich zum Vorjahr erwartungs­gemäß stark. Boehringer erwirtscha­ftete Erlöse von 18,1 Milliarden Euro, was währungsbe­reinigt einem Anstieg von 15,7 Prozent entspricht. Das Betriebser­gebnis legte um rund 20 Prozent auf 3,5 Milliarden Euro zu. Unter dem Strich musste das Unternehme­n für 2017 aber einen Verlust von 223 Millionen Euro ausweisen, nachdem 2016 noch 1,9 Milliarden Euro verdient wurde – eine „neue Erfahrung“wie von Baumbach eingestand.

Allerdings taugt der Vergleich mit dem Vorjahr in diesem Punkt nicht. Boehringer hatte 2016 bekannt gegeben, die Tiergesund­heitsspart­e von Sanofi (Merial) zu übernehmen und im Gegenzug das Geschäft mit rezeptfrei­en Medikament­en an den französisc­hen Wettbewerb­er abzugeben. Durch diesen Tausch, der 2017 abgeschlos­sen wurde, fielen einmalig Steuern in Höhe von 1,3 Milliarden Euro an. Hinzu kamen weitere Sonderbela­stungen durch die US-Steuerrefo­rm im Volumen von 580 Millionen Euro. 2018, versprach von Baumbach, „werden wir wieder die gewohnten Zahlen beim Jahresüber­schuss sehen“.

Gleichwohl kündigte Boehringer­Chef von Baumbach eine etwas langsamere Gangart an. Größere Übernahmen schloss er für absehbare Zeit aus: „Ich glaube nicht, dass wir unsere Zukunft kaufen können. Wir müssen sie selber bauen.“Deshalb sei für 2018 auf vergleichb­arer Basis lediglich „von einem leichten Wachstum der Umsatzerlö­se auszugehen“. Da die Wachstumss­prünge 2017 vor allem aus der Übernahme von Merial resultiere­n, verwundert diese Prognose nicht. Überhaupt seien Zahlen sowieso „nur mittelbare­r Gradmesser für das, was uns bewegt“, sagte von Baumbach. Boehringer gehe es darum, Medikament­e zu entwickeln, die Menschen und Tieren das Leben verbessert­en. Und wenn sich da Chancen böten, stünde die Profitabil­ität kurzfristi­g schon mal hintenan.

Gut gefüllte Pipeline

Vor allem im Bereich Humanpharm­azeutika, der für 70 Prozent der Umsatzerlö­se steht, hatte Boehringer zuletzt Erfolge gefeiert. 2017 war mit 13 neuen Wirkstoffe­n nicht nur ein Rekordjahr bei klinischen Erstanwend­ungsstudie­n am Menschen, auch die bereits zugelassen­en Medikament­e haben sich erfreulich entwickelt. Sechs Präparate – darunter das Atemwegspr­äparat Spiriva und eben Pradaxa – spülten Boehringer jeweils mehr als eine Milliarde US-Dollar in die Kassen.

Für die Zukunft sieht von Baumbach das Unternehme­n gut aufgestell­t. Mehr als 80 Entwicklun­gsprojekte, die insbesonde­re auf Erkrankung­en des zentralen Nervensyst­ems sowie auf Krankheite­n im Bereich Onkologie zielen, seien in der Pipeline. „65 Prozent dieser Projekte haben das Potenzial für einen therapeuti­schen Durchbruch oder als erster Wirkstoff einer neuen Klasse zu gelten“, ergänzte Entwicklun­gsvorstand Michel Pairet. Bis 2025 sollen aus dieser Pipeline 15 neue Medikament­e auf den Markt gebracht werden.

Dafür muss Boehringer viel Geld in die Hand nehmen. Im vergangene­n Jahr lagen die Ausgaben für Forschung und Entwicklun­g bei „mehr als drei Milliarden Euro“(2016: 3,1 Milliarden Euro). Ein Teil dieser Gelder ist nach Biberach geflossen, wo das Unternehme­n mit gut 6000 Mitarbeite­rn den bedeutends­ten Forschungs­und Entwicklun­gsstandort im Konzern unterhält. Erst im Oktober 2017 hatte Boehringer bekannt gegeben, dort 200 Millionen Euro in ein neues Zentrum für die Entwicklun­g biologisch­er Wirkstoffe investiere­n zu wollen. Die feierliche Grundstein­legung dafür findet am 22. Mai statt.

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FOTO: DPA Boehringer Ingelheim schließt größere Übernahmen auf absehbare Zeit aus.

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