Hauptsache Druck
Innerhalb von 24 Stunden hat die türkische Justiz in zwei Verfahren demonstriert, dass es bei vielen politischen Prozessen in dem EUBewerberland nicht um die Suche nach der Wahrheit geht, sondern um Druck auf unbotmäßige Zeitgenossen. Im Prozess gegen die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“wurden Reporter und Verlagsmanager zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie die Regierung kritisiert hatten. Handfeste Beweise konnte die Anklage nicht vorlegen. Fast gleichzeitig entschied ein anderes Gericht, dass die Ulmer Journalistin Mesale Tolu mindestens bis zum Herbst nicht in die Bundesrepublik heimkehren darf. Auch hier gab es keine sachliche Begründung.
Keiner der Beteiligten wundert sich darüber. Entscheidungen wie diese sind zur Normalität geworden, weder die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter noch Tolu erwarteten eine unparteiische Untersuchung. Die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan war einst angetreten, um Verhärtungen im Staatsapparat aufzubrechen und internationale Normen zu verankern. Damals machte die Justiz Jagd auf Islamisten; Erdogan selbst wurde ins Gefängnis gesteckt. Doch statt das alte System zu reformieren, hat die AKP die alten Zustände unter anderen Vorzeichen neu belebt. Heute wie damals gilt die Devise: Hauptsache Druck auf Andersdenkende.
Das ist zunächst ein Versagen der türkischen Politik, doch auch Europa trägt eine Verantwortung. Bis der Europäische Menschenrechtsgerichtshof über Einsprüche aus der Türkei entscheidet, vergeht so viel Zeit, dass die Beschlüsse aus Straßburg Bedrängten und Angeklagten nicht mehr helfen. Die EU könnte die Türkei durch Gespräche über das Thema Rechtsstaat zwingen, Farbe zu bekennen, tut es aber nicht.
Immerhin lassen sich weder die „Cumhuriyet“-Journalisten noch Tolu von der Justiz einschüchtern. Sie vertrauen darauf, dass am Ende die Wahrheit siegt. Wie lange das dauern wird, weiß allerdings niemand.