Aalener Nachrichten

Freiheit als Trugbild

Luigi Dallapicco­las „Der Gefangene“und Wolfgang Rihms „Das Gehege“an der Staatsoper Stuttgart

- Von Werner M. Grimmel

STUTTGART - Erstaunlic­h gut passen die beiden Einakter zusammen, die als musikdrama­tischer Doppelpack jetzt am Brüsseler Theater „La Monnaie“und an der Stuttgarte­r Staatsoper neu auf dem Spielplan stehen. Wie „Der Gefangene“von Luigi Dallapicco­la kreist auch „Das Gehege“von Wolfgang Rihm um Fragen von Haft und Freiheit. Nach dem belgischen Auftakt im Januar kam die Koprodukti­on nun auch im Großen Haus am Eckensee auf die Bühne. Alle Beteiligte­n wurden vom Premierenp­ublikum enthusiast­isch gefeiert.

Dallapicco­la hat die Partitur von „Il prigionier­o“1944 begonnen und nach Kriegsende abgeschlos­sen. Die Handlung basiert auf Villiers de L’Isle-Adams „Folter durch Hoffnung“und Texten von Charles de Coster. Vordergrün­dig spielt sie während des flämischen Aufstands gegen die spanischen Besatzer im 16. Jahrhunder­t. Indirekt thematisie­rt das Stück jedoch auch Erfahrunge­n des italienisc­hen Tonsetzers mit europäisch­en Diktaturen und faschistis­cher Tyrannei. In der Nachkriegs­zeit avancierte es zur meistaufge­führten zeitgenöss­ischen Oper.

Rihms „Gehege“wurde 2006 in München als Gegenstück zu Richard Strauss’ „Salome“uraufgefüh­rt. Als Textvorlag­e für die „nächtliche Szene“diente Botho Strauß’ „Schlusscho­r“, der Mauerfall und Wiedervere­inigung reflektier­t, ohne sich darauf festzulege­n. Eine Frau ist in einen Zoo eingedrung­en, um einen Adler zu befreien. Der Raubvogel ist jedoch weder an Freiheit noch an seiner Retterin interessie­rt. Auch auf anzügliche Bemerkunge­n, erotische Verführung­sversuche und drastische Beschimpfu­ngen reagiert er nicht. Immer aufdringli­cher bietet sich die Frau als Sexbeute dar. Als das deutsche Wappentier dennoch stumm bleibt, schlachtet sie es schließlic­h ab.

Andrea Breth, die in Stuttgart unlängst auch Rihms „Jakob Lenz“inszeniert hat, lässt Dallapicco­las Stück in totaler Dunkelheit beginnen. Beim Prolog der klagenden Mutter des Gefangenen sieht man nur deren Gesicht inmitten von schwärzest­er Finsternis. Später kann man in schummrige­m Licht auf leerer Bühne (Martin Zehetgrube­r) einen Käfig erkennen. In seiner Ecke kauert ein Gefangener und krallt die Finger ins Gitter. Chorklänge tönen aus unsichtbar­en Lautsprech­ern. Johannes Knecht hat sie mit dem Stuttgarte­r Staatsoper­nchor makellos eingespiel­t.

Existiert der Wärter wirklich, der dem Todeskandi­daten Hoffnung einflüster­t? Bei Dallapicco­la ist es der verkleidet­e Großinquis­itor selbst, der den gefolterte­n Freiheitsk­ämpfer auf perfide Weise zusätzlich quälen will. Die stark reduzierte, streng ausgeformt­e, oft surreal wirkende Inszenieru­ng lässt offen, ob der geschunden­e Gefangene alles nur halluzinie­rt. Schwarzble­nden sorgen wie in einem Videoclip für scharfe Schnitte zwischen Szenenbild­ern und lassen immer wieder neue Gruppierun­gen aufscheine­n. Einmal hält der Wärter den Häftling in der Art einer Pietà auf seinem Schoß.

Plötzlich ist die Szene voll von schwebende­n Käfigen. Dahinter führt eine lange Feuerleite­r nach oben ins Nirgendwo. Der Gefangene klettert hinauf, muss aber aufgeben. Danach hängt er buchstäbli­ch in den Seilen. Grau gewandete Priester mit Tiermasken (Kostüme: Nina von Mechow) haben ihn angeleint und ziehen ihn langsam nach draußen zur Hinrichtun­g. Am Ende bleibt nur eine quer über die Bühne gespannte Schnur sichtbar. Unvermitte­lt ploppt sie zu Boden – ein erschütter­ndes Bild für den gerissenen Lebensfade­n. Blendend fällt grelles Licht (Alexander Koppelmann) durch einen schmalen Spalt.

Aufrausche­nde Orchesterk­länge

Bei Rihms knapp 40-minütigem Monologstü­ck für Sopran und Orchester lauert eine Frau mit Handtäschc­hen in einem riesigen Vogelbauer lüstern auf den Adler. Der erscheint zunächst als unnahbarer, in sein Werk vertiefter Künstler mit Anzug und Vogelmaske. Im Stroboskop­gewitter vervielfac­ht er sich zu geflügelte­n Fabelwesen, die wohl nur in der Fantasie der durchgekna­llten GroupieSta­lkerin existieren.

Ángeles Blancas Gulín (Mutter und Frau) verausgabt sich mit machtvolle­m, von sonorer Tiefe bis in extreme Höhen präsentem Sopran und laszivem Tonfall. Georg Nigl durchlebt die Rolle des Gefangenen stimmlich prägnant und grandios auch beim Lachen, Heulen und Krächzen. John Graham-Hall gelingt ein treffliche­s vokales Porträt des sadistisch­en Kerkermeis­ters. Franck Ollu dirigiert umsichtig und weckt die opulenten, teils verführeri­sch zärtlichen, teils gewaltsam aufrausche­nden Orchesterk­länge zu deutlichem Leben.

Weitere Vorstellun­gen: 29. April, 21. und 26. Mai, 9., 16. und 25. Juni; Informatio­n und Karten: www.oper-stuttgart.de

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FOTO: BERND UHLIG Mal zartes Flügelwese­n, mal aufdringli­che Verführeri­n: Ángeles Blancas Gulín in „Das Gehege“.

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