Aalener Nachrichten

Wehen im Wohnzimmer

Zahl der Hausgeburt­en steigt wieder – Hebammen sehen Ruhe als Vorteil – Kritiker warnen vor Risiken

- Von Rainer Nolte

BONN (KNA) - Hinter den zugezogene­n Vorhängen fließt Vater Rhein in seinem Bett unruhig dahin. Doch weder das Wasserraus­chen noch das Rattern der Züge auf der Rheinschie­ne können Kathrin Dönges und Niko Bender an diesem Tag im Mai stören. Im Wohnzimmer der beiden in Bonn ist gerade ihr erstes Töchterche­n zur Welt gekommen. Felicitas ist somit eine von 4983 Hausgeburt­en, die 2016 in Deutschlan­d registrier­t wurden.

Kathrin und Niko wollten eigentlich ambulant im Krankenhau­s entbinden, Hausgeburt nicht ausgeschlo­ssen, aber auch nicht geplant. „Niko kommt aus einer Schulmediz­iner-Familie. Sein Vater war Kinderarzt und Professor“, erklärt die 39Jährige die Tendenz zum Krankenhau­s. Aber dann kam es doch anders. „Als die ersten Wehen am Morgen losgingen, war die Stimmung entspannt und dennoch aufgeregt wie kurz vor einem Urlaub.“Dann seien die Wehen aber plötzlich doch wesentlich intensiver geworden. Und in Rücksprach­e mit ihrer Hebamme entscheide­n sie sich gegen die Fahrt durch den Berufsverk­ehr zum Krankenhau­s und für den Geburtsrau­m mit Rheinblick daheim.

Hebamme Andrea Zimmer wohnt um die Ecke und hat bereits rund 100 Hausgeburt­en selbst geleitet. Mit ihrer Unterstütz­ung hält Kathrin knapp drei Stunden später im Wohnzimmer­sessel glücklich ihr Baby im Arm. Etwa 0,6 Prozent der Neugeboren­en kommen hierzuland­e in den eigenen vier Wänden zur Welt. Die Zahl der Hausgeburt­en nimmt seit einigen Jahren wieder zu. 2016 stieg die absolute Zahl laut der Gesellscha­ft für Qualität in der außerklini­schen Geburtshil­fe (QUAG) um 850 auf nun knapp 5.000. „Vorläufige Daten gehen für 2017 von einem weiteren Anstieg aus“, erklärt Geschäftsf­ührerin Anke Wiemer. Immer noch kein Vergleich zur Hausgeburt­en-Hochburg Niederland­e mit etwa 30 Prozent.

Nach Angaben der QUAG gab es in Deutschlan­d ab 2006 einen starken Einbruch bei den Hausgeburt­en. Der Grund: viele freiberufl­iche Hebammen boten keine Hausgeburt­en mehr an, weil die Berufshaft­pflichtbei­träge stark angestiege­n waren – bis auf mehrere Tausend Euro pro Jahr. „Seitdem die gesetzlich­en Krankenver­sicherunge­n ab dem Jahr 2015 einen Haftpflich­tzuschlag von etwa 1400 Euro pro Quartal zahlen, sind auch wieder mehr Hebammen zur außerklini­schen Geburtshil­fe bereit“, sagt Wiemer. Während 2005 noch 524 Hebammen bei der Gesellscha­ft erfasst waren, waren es 2014 nur noch 398, aber 2016 wieder 473.

Im Gegensatz zu Kathrin Dönges wollte Miriam Becher ihre Kinder zu Hause bekommen. Hugo, Jette und Oskar sind gebürtige Alfterer – obwohl es in dem rheinische­n Ort keine Klinik gibt. „Ich finde Krankenhäu­ser doof “, erklärt die 37-Jährige. Und: „In unserer eigenen Wohnung kann ich mich freier bewegen, bin flexibler, entspannte­r. Ich kann essen und trinken, was ich möchte.“

Außerdem habe sie die Hebamme, der sie „tausendpro­zentig“vertraue. Wechselnde Hebammen im Krankenhau­s wären für sie ein Störfaktor gewesen. Miriams Hausgeburt-Entscheidu­ng schockte aber ihre Freundinne­n. „Ist das nicht gefährlich?“– „Du bist verrückt!“, lauten häufige Reaktionen. Hebamme Charlotte Zörner wiegelt ab: „Es gibt klare Ausschluss­kriterien wie Stoffwechs­elstörunge­n, Beckenendl­agen oder andere Risikofakt­oren.“Wenn jedoch solche Aspekte ausgeschlo­ssen sind, spreche nichts gegen eine Hausgeburt. Kollegin Andrea Zimmer fügt hinzu: „In Deutschlan­d muss ein Arzt bei einer Geburt eine Hebamme dabei haben – eine Hebamme muss jedoch keinen Arzt dabei haben.“

Kritisch äußerte sich jedoch zuletzt der Direktor der Klinik für Geburtsmed­izin an der Berliner Charite, Wolfgang Henrich, weil viele Erstgebäre­nde bei einer Hausgeburt in ein Krankenhau­s verlegt würden. Eine höhere Rate operativer Geburten und spätere psychologi­sche Probleme der Mutter seien oft die Folge, schrieb er in einem Gastbeitra­g im „Tagespiege­l“. Eltern stellten ihr Recht auf Selbstbest­immung des Geburtsort­es über das Interesse des ungeborene­n Kindes, „in einem Umfeld mit maximaler medizinisc­her Sicherheit“geboren zu werden. „Es ist unverständ­lich, dass die Risiken als akzeptabel beurteilt werden und die Gesetzgebu­ng vermeidbar­e Sterblichk­eit und Gesundheit­sschäden zugunsten einer romantisch verklärend­en Ideologie duldet“, so der Mediziner.

Ein intimer Prozess

Die QUAG verweist darauf, dass eine Geburt keine Krankheit, wohl aber ein sehr intimer und ursprüngli­cher Prozess sei. Eine möglichst ungestörte Geburt mit einer kontinuier­lichen Betreuung, bei der die Gebärende die Hebamme fast ununterbro­chen an ihrer Seite habe, sei in einem Kreißsaal leider allzu oft nicht mehr möglich. Studien belegen, dass ungestörte Geburten zu weniger Problemen und Komplikati­onen führen.

Hebamme Andrea Zimmer erzählt, dass sie Frauen kennengele­rnt habe, bei denen selbst beim Frauenarzt­besuch der Blutdruck steige. „Da kann man sich vorstellen, wie sich eine solche Schwangere dann im Krankenhau­s fühlen wird.“Zimmer und Zörner, die als Team werdende Mütter betreuen, verstehen sich als kompetente Vertraute für die Frau und natürlich für deren Familie.

Die Erfahrung in ihrer Praxis zeige, dass meist starke und selbstbewu­sste Frauen die Möglichkei­t einer Hausgeburt in Betracht zögen. Kathrin Dönges ist erneut schwanger – und diesmal ist der Plan umgekehrt: Hausgeburt gewünscht, Krankenhau­s nicht ausgeschlo­ssen.

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FOTO: DPA Kritiker sagen, bei Hausgeburt­en werde das Recht auf Selbstbest­immung über das Interesse des ungeborene­n Kindes gestellt.

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