„Wir sind die nebelfreie Stadt“
Publikum in der Stadthalle feiert das ungewöhnliche Theaterprojekt begeistert.
AALEN - Endlich geht der Vorhang auf. Monatelang haben die Aalener gespannt darauf gewartet. Der hier so mit sich geizende Nebel hat sich endlich gelüftet. Was steckt hinter diesem bislang einmaligen Großprojekt mit insgesamt 130 Akteuren, Bürgerchor, Ballett, Bands, Männerquartett? Die Spannung war groß. Das Warten hat sich gelohnt. „Wir sind die nebelfreie Stadt“entpuppt sich nämlich als bravouröser Parforceritt durch Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft. Das Theater der Stadt Aalen, Musiker und Bürger dieser Stadt machen Theater – im allerbesten Sinn. Hier wird die Heterogenität einer lokalen Gesellschaft mit gesprochenem Wort, Blasmusik, Tanz, Marsch und Klassik in einer erstaunlichen Themenbreite seziert.
Gespannt sind alle in der voll besetzten Stadthalle. Auszüge dieses erstaunlichen Projekts nach den Texten von Dagrun Hintze haben viele schon gesehen und gehört. Am Samstagswochenmarkt vor dem Marktbrunnen, als Thomas Haller den Bürgerchor dirigierte. Das war nur ein kleiner Blick in die Truhe, sozusagen ein Vorgeschmack. Jetzt zur Premiere reiht sich alles zusammen zum Gesamtkunstwerk.
Aus dem Off ertönt die Stimme. Jeder Stadtbezirk, jeder Teilort, jeder noch so kleine Weiler und jeder Hof dieser in die Fläche greifenden Kreisstadt wird aufgezählt. Der Bürgerbeziehungsweise Sprechchor stellt die geografischen, geologischen und meteorologischen Vorzüge der Aalener Bucht vor. Also auch die etwa 1800 Sonnenstunden im Jahr, das sind im Schnitt 4,9 Stunden pro Tag, und übers Jahr ist es im Schnitt 9,6 Grad warm. Überdurchschnittlich also. „Das haben bestimmt schon die Römer gewusst und deshalb ihr Kastell gebaut, genau hier vor fast 2000 Jahren“, ist zu hören. Die zog es ja weg aus Heidenheim. Warum? Vielleicht wegen des Nebels dort.
Aalen – wie für Römer gemacht
Die Römer sind gegangen, ein bisschen italienisches Lebensgefühl ist geblieben. Sobald die ersten Sonnenstrahlen da sind, verwandelt sich die City fast in eine Piazza. Geblieben sind auch die Häuser hier, „fast alle gebaut von Italienern in Schwarzarbeit nach Feierabend“von den ersten Gastarbeitern. Um die geht es immer wieder in dem Stück, um die Kriegsvertriebenen, die nicht nur konfessionell die Stadt neu aufstellten. Und um die Flüchtlinge der Gegenwart. „Wer soll auf wen zugehen?“, so die Frage aus dem Chor.
Es geht Schlag auf Schlag. Die Marching Band von Christoph Wegel stimmt die „Eurovisionsmelodie“an, ein bisschen auch eine Mahnung, ob das mit Europa klappen kann, wenn es heute sogar in Aalen noch gewisse Ressentiments wegen der Eingemeindung gibt. In einer Art Ringkampf geht es von der ersten urkundlichen Erwähnung des Dorfs am Kocher bis in die stolze Reichsstadtzeit und zur Katastrophe, dem Stadtbrand im September 1634. Hier grüßt Mörikes „Feuerreiter“, und der rote Hahn kommt nochmal 1945 – „der Ringkampf ist beendet.“Das Ringen in der Ringerhochburg Aalen aber noch lange nicht.
Der große Sohn der Stadt bekommt seinen wohlverdienten Platz. Der Chor zitiert Schubarts „Forelle“, im Bühnenhintergrund der sprudelnde Kocherursprung. Dann tritt das Ballettensemble in Aktion. Die agilen, erstaunlich professionellen Tänzerinnen machen zuerst auf nette Grazien und stoßen mit dem tragischen Rebellen am Stammtisch an. Der hat seine Schreibfeder nämlich gegen einen Bierkrug eingetauscht. Blitzschnell wendet sich das Blatt. Der grazile Tanz wird zu einer Art martialischem Stepp-Tango, Schubart wird in die Mitte genommen, in einer Stampede abgeführt wie von rachelüsternen Walküren. Auf den Hohenasperg.
Die Nixen – ein echtes Bonbon
Nach der Pause geht es fulminant weiter. Sechs Jungs vom Percussionensemble Philipp Schiegl bearbeiten die Paradetrommeln, der Kontrast folgt in Form von grünen Wassernixen (Kochernixen?), begleitet von einem versierten jungen Marimba-Spieler. Vielleicht ist die Szene Ausdruck der vielen Bächlein, die sich in die Aalener Bucht ergießen und sich im Kocher vereinigen. Die Nixen verschmelzen inniglich, für Auge und Ohr jedenfalls ein echtes Bonbon. Bürgerchor, Jugendkantorei, Percussion, Ballett, Männerquartett, alle wechseln sich ab. Fragen werden aufgeworfen, es geht um „heiße Eisen“wie um das einstige alternative Jugendzentrum, den „Mohren“, um Xenophobie und Zuwanderung, einst und jetzt. Die „Balkan Band“um „Flex“Michael Flechsler stimmt den „Griechischen Wein“an, stellvertretend für die, die in Aalen eine neue Heimat gefunden haben. Man ist stolz auf dieses Miteinander, auch, dass Aalens Ausländerbehörde 2005 zur ausländerfreundlichsten gekürt wurde, und darauf, dass sich Aalen mit wohl einem der schönsten Prädikate schmücken kann – weltoffen zu sein.
Es schreit nach Fortsetzung
So heißt es auch von Hamburg, von wo die Autorin dieses Stückes stammt, die 20 Aalener Bürgerinnen und Bürger interviewt hatte. Sie dürfte sich hier also wohlgefühlt haben. Fragt sich nur, ob sie den Nebel hier unten vermisst hat. Klar ist: Die Theaterring-Saison ist mit dieser Premiere beschlossen. Dieses Theaterprojekt schreit aber gerade danach, eine Fortsetzung zu finden.