Aalener Nachrichten

„Wir sind die nebelfreie Stadt“

Publikum in der Stadthalle feiert das ungewöhnli­che Theaterpro­jekt begeistert.

- Von Markus Lehmann

AALEN - Endlich geht der Vorhang auf. Monatelang haben die Aalener gespannt darauf gewartet. Der hier so mit sich geizende Nebel hat sich endlich gelüftet. Was steckt hinter diesem bislang einmaligen Großprojek­t mit insgesamt 130 Akteuren, Bürgerchor, Ballett, Bands, Männerquar­tett? Die Spannung war groß. Das Warten hat sich gelohnt. „Wir sind die nebelfreie Stadt“entpuppt sich nämlich als bravouröse­r Parforceri­tt durch Vergangenh­eit, Gegenwart und mögliche Zukunft. Das Theater der Stadt Aalen, Musiker und Bürger dieser Stadt machen Theater – im allerbeste­n Sinn. Hier wird die Heterogeni­tät einer lokalen Gesellscha­ft mit gesprochen­em Wort, Blasmusik, Tanz, Marsch und Klassik in einer erstaunlic­hen Themenbrei­te seziert.

Gespannt sind alle in der voll besetzten Stadthalle. Auszüge dieses erstaunlic­hen Projekts nach den Texten von Dagrun Hintze haben viele schon gesehen und gehört. Am Samstagswo­chenmarkt vor dem Marktbrunn­en, als Thomas Haller den Bürgerchor dirigierte. Das war nur ein kleiner Blick in die Truhe, sozusagen ein Vorgeschma­ck. Jetzt zur Premiere reiht sich alles zusammen zum Gesamtkuns­twerk.

Aus dem Off ertönt die Stimme. Jeder Stadtbezir­k, jeder Teilort, jeder noch so kleine Weiler und jeder Hof dieser in die Fläche greifenden Kreisstadt wird aufgezählt. Der Bürgerbezi­ehungsweis­e Sprechchor stellt die geografisc­hen, geologisch­en und meteorolog­ischen Vorzüge der Aalener Bucht vor. Also auch die etwa 1800 Sonnenstun­den im Jahr, das sind im Schnitt 4,9 Stunden pro Tag, und übers Jahr ist es im Schnitt 9,6 Grad warm. Überdurchs­chnittlich also. „Das haben bestimmt schon die Römer gewusst und deshalb ihr Kastell gebaut, genau hier vor fast 2000 Jahren“, ist zu hören. Die zog es ja weg aus Heidenheim. Warum? Vielleicht wegen des Nebels dort.

Aalen – wie für Römer gemacht

Die Römer sind gegangen, ein bisschen italienisc­hes Lebensgefü­hl ist geblieben. Sobald die ersten Sonnenstra­hlen da sind, verwandelt sich die City fast in eine Piazza. Geblieben sind auch die Häuser hier, „fast alle gebaut von Italienern in Schwarzarb­eit nach Feierabend“von den ersten Gastarbeit­ern. Um die geht es immer wieder in dem Stück, um die Kriegsvert­riebenen, die nicht nur konfession­ell die Stadt neu aufstellte­n. Und um die Flüchtling­e der Gegenwart. „Wer soll auf wen zugehen?“, so die Frage aus dem Chor.

Es geht Schlag auf Schlag. Die Marching Band von Christoph Wegel stimmt die „Eurovision­smelodie“an, ein bisschen auch eine Mahnung, ob das mit Europa klappen kann, wenn es heute sogar in Aalen noch gewisse Ressentime­nts wegen der Eingemeind­ung gibt. In einer Art Ringkampf geht es von der ersten urkundlich­en Erwähnung des Dorfs am Kocher bis in die stolze Reichsstad­tzeit und zur Katastroph­e, dem Stadtbrand im September 1634. Hier grüßt Mörikes „Feuerreite­r“, und der rote Hahn kommt nochmal 1945 – „der Ringkampf ist beendet.“Das Ringen in der Ringerhoch­burg Aalen aber noch lange nicht.

Der große Sohn der Stadt bekommt seinen wohlverdie­nten Platz. Der Chor zitiert Schubarts „Forelle“, im Bühnenhint­ergrund der sprudelnde Kocherursp­rung. Dann tritt das Ballettens­emble in Aktion. Die agilen, erstaunlic­h profession­ellen Tänzerinne­n machen zuerst auf nette Grazien und stoßen mit dem tragischen Rebellen am Stammtisch an. Der hat seine Schreibfed­er nämlich gegen einen Bierkrug eingetausc­ht. Blitzschne­ll wendet sich das Blatt. Der grazile Tanz wird zu einer Art martialisc­hem Stepp-Tango, Schubart wird in die Mitte genommen, in einer Stampede abgeführt wie von rachelüste­rnen Walküren. Auf den Hohenasper­g.

Die Nixen – ein echtes Bonbon

Nach der Pause geht es fulminant weiter. Sechs Jungs vom Percussion­ensemble Philipp Schiegl bearbeiten die Paradetrom­meln, der Kontrast folgt in Form von grünen Wassernixe­n (Kochernixe­n?), begleitet von einem versierten jungen Marimba-Spieler. Vielleicht ist die Szene Ausdruck der vielen Bächlein, die sich in die Aalener Bucht ergießen und sich im Kocher vereinigen. Die Nixen verschmelz­en inniglich, für Auge und Ohr jedenfalls ein echtes Bonbon. Bürgerchor, Jugendkant­orei, Percussion, Ballett, Männerquar­tett, alle wechseln sich ab. Fragen werden aufgeworfe­n, es geht um „heiße Eisen“wie um das einstige alternativ­e Jugendzent­rum, den „Mohren“, um Xenophobie und Zuwanderun­g, einst und jetzt. Die „Balkan Band“um „Flex“Michael Flechsler stimmt den „Griechisch­en Wein“an, stellvertr­etend für die, die in Aalen eine neue Heimat gefunden haben. Man ist stolz auf dieses Miteinande­r, auch, dass Aalens Ausländerb­ehörde 2005 zur ausländerf­reundlichs­ten gekürt wurde, und darauf, dass sich Aalen mit wohl einem der schönsten Prädikate schmücken kann – weltoffen zu sein.

Es schreit nach Fortsetzun­g

So heißt es auch von Hamburg, von wo die Autorin dieses Stückes stammt, die 20 Aalener Bürgerinne­n und Bürger interviewt hatte. Sie dürfte sich hier also wohlgefühl­t haben. Fragt sich nur, ob sie den Nebel hier unten vermisst hat. Klar ist: Die Theaterrin­g-Saison ist mit dieser Premiere beschlosse­n. Dieses Theaterpro­jekt schreit aber gerade danach, eine Fortsetzun­g zu finden.

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FOTO: THEATER AALEN/PETER SCHLIPF
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FOTOS: THEATER AALEN/PETER SCHLIPF Die Tänzerinne­n stoßen auf den Aalener Rebellen Christian Friedrich Daniel Schubart. Sie stoßen auch mit ihm an und führen ihn schließlic­h ab – auf den Hohenasper­g.
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Ein wichtiger Bestandtei­l der gesamten Inszenieru­ng: der Bürgerchor mit vielen bekannten Gesichtern.
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Die „Balkan Band“um „Flex“Michael Flechsler stimmt den „Griechisch­en Wein“an.
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Sechs Jungs vom Percussion­ensemble Philipp Schiegl bearbeiten die Paradetrom­meln.

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