„Das ist wirklich eine Revolution“
Wissenschaftlerin Anne Sliwka sagt, was sich im Bildungssystem schnell ändern muss
STUTTGART - Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) krempelt die Schulverwaltung um. Anlass war das schlechte Abschneiden Baden-Württembergs in Bildungsstudien der vergangenen Jahre. 2019 sollen zwei neue Institute ihre Arbeit aufnehmen und die Qualität in den Schulen verbessern: das Institut für Bildungsanalysen sowie das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung. Begleitet wird der Wandel von einem wissenschaftlichen Beirat, dem auch die Heidelberger Professorin Anne Sliwka angehört. Im Gespräch mit Kara Ballarin erklärt sie, was sich im Schulsystem des Südwestens dringend ändern muss.
Frau Sliwka, Ihr Kollege Ulrich Trautwein von der Universität Tübingen hat jüngst gesagt, die Bildung in Baden-Württemberg sei seit zwei Jahrzehnten im Abwärtstrend. Hat er recht?
Ja, das kann man anhand der Daten zeigen. Es sind zu viele kleine Projekte und Reförmchen als Einzelmaßnahmen umgesetzt worden. Das war alles relativ schlecht aufeinander abgestimmt.
Was muss passieren?
Wir brauchen zwingend Daten, womit wir die drei wichtigsten Faktoren für gute Schule messen können. Dies sind Leistungsexzellenz, Chancengerechtigkeit und Wohlbefinden für alle. In Kanada beispielsweise werden alle relevanten Daten erhoben und den Schulen jeweils zur Verfügung gestellt. Dabei geht es um Schüler- und Lehrerzufriedenheit, aber auch um Leistungsdiagnostik. So weiß jede Schule ganz genau, wie viele Schüler auf welcher Kompetenzstufe stehen. Gemeinsam mit der Schulaufsicht muss dann jede Schule in einem bestimmten Zeitkorridor Entwicklungsziele definieren und zeigen, dass sie daran arbeitet. Daran können dann auch zusätzliche Mittel geknüpft werden – etwa für einen zusätzlichen Lehrer für eine bestimmte Zeit, zum Beispiel für die Leseförderung. Dieses Vorgehen stellen wir uns auch für BadenWürttemberg vor.
Braucht es dafür nicht zwingend mehr digitale Unterstützung im Land?
Unbedingt. Bei der Digitalisierung der Schulen hinkt nicht nur BadenWürttemberg, sondern ganz Deutschland hinterher – im Vergleich zu Kanada und Singapur etwa um 15 Jahre. Auch europäische Länder sind da längst weiter. Was mich irritiert ist, dass man das Potenzial der Digitalisierung an Schulen bislang falsch wahrnimmt. Es geht dabei doch gar nicht um die Arbeit mit Tablets im Unterricht, sondern vor allem um eine vernünftige Diagnostik, die man digital so machen kann, dass Lehrkräfte damit weniger Arbeit haben. Wenn die Lehrer wissen, wo die Schüler stehen, können sie besser planen und fördern.
Was heißt das konkret?
Ich bin definitiv dafür, Schülern eine differenziertere Rückmeldung zu geben als Noten. Wenn ein Schüler in Mathe eine 4 hat: Was sagt das aus? Der Schüler muss wissen, in welchen Kompetenzen, die er über das Schuljahr hätte erwerben sollen, er noch Defizite hat und welche Fördermaßnahmen greifen. Solch ein Zeugnis ist deutlich umfangreicher, es kann vier Seiten lang sein. Der Aufwand ist für Lehrer nur dann zu stemmen, wenn die Zeugnisse digital generiert werden. Das ist wirklich eine Revolution, man kann das ganze Qualitätsmanagement auf andere Beine stellen.
Ist die Bedeutung der Digitalisierung im Ministerium angekommen?
Ja, aber der Änderungsprozess dahin ist eine große Herausforderung – vor allem auch in den Köpfen der Lehrer.
Geht Baden-Württemberg bei der Zuteilung der Ressourcen zu sehr nach dem Gießkannenprinzip vor?
Wir gehen nicht strategisch mit den Mitteln um, die wir einsetzen – gerade aus internationaler Sicht. Eine Möglichkeit, das zu ändern, sind zum Beispiel Zuweisungen, die auf dem Sozialindex der Schulen basieren. Hamburg tut das. Über die Grundfinanzierung hinaus bekommen solche Schulen mehr Geld, die besondere Herausforderungen haben – etwa ein hohes Maß an Bildungsarmut. Gleichzeitig verpflichten sich die Schulen dazu, an bestimmten Zielen zu arbeiten, und sie legen darüber Rechenschaft ab. Das ist absolut nötig, wenn wir das Ziel der Chancengerechtigkeit ernst nehmen. Wir brauchen ja besser qualifizierte Absolventen unseres Schulsystems.
Gilt dasselbe auch für die Bezahlung der Lehrer?
Auch beim Lehrerberuf wäre ich dafür, die Mittel anders zuzuweisen, indem man eine Karrierestufe einbaut. Wenn Lehrer nachweisen, dass sie sich besonders qualifiziert haben, bekommen sie mehr Geld – das schafft einen Entwicklungsanreiz. Die Lehrerkarriere ist nicht attraktiv genug.
Hängt das nicht auch mit der heutigen Stellenbeschreibung eines Lehrers zusammen?
Absolut. Der Beruf wird mit Anforderungen überfrachtet, aber die Karriere ist ganz flach. Deswegen vergraulen wir gute Leute für den Beruf. Wir wissen aus einer OECD-Studie, dass Lehrer, die in Teams arbeiten, etwa mit anderen Lehrkräften, Sozialarbeitern und Psychologen, drei Effekte erleben: Die Schülerleistungen steigen, die Berufszufriedenheit bei Lehrern und auch ihr Gesundheitszustand verbessert sich.
Das könnten Lehrer auch als Hineinpfuschen in ihren Unterricht verstehen.
Das ist irrational, da sie von den Teamstrukturen profitieren würden. Wir sehen ja schon eine graduelle Entwicklung: Vor zehn Jahren war es noch fast undenkbar, dass an Gymnasien Schulsozialarbeiter arbeiten. Durch multiprofessionelle Teams gewinnt der Lehrerberuf zudem an Attraktivität. Es kommen neue Expertisen dazu und der Lehrer kann sich wieder mehr auf sein Kerngeschäft konzentrieren. Manche Schwellenländer sind hier schon weiter als wir.
Das Ministerium wird aber wohl kaum multiprofessionelle Teams an allen Schulen finanzieren.
Um ein professionelles Niveau an der Schule zu erreichen, darf eine Schule deshalb auch nicht zu klein sein.
Ins wirtschaftsstarke Baden-Württemberg gibt es große Migrationsbewegungen. Was heißt das für die Schulen?
Baden-Württemberg ist ein Einwanderungsland – deshalb muss es sich jetzt ganz schnell an anderen wie Kanada orientieren. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Ganz vieles ist schon getestet worden – man weiß, was gut läuft. Einiges können wir übernehmen, sonst verlieren wir zu viel Zeit.