Aalener Nachrichten

Antakya hofft auf Stichwahl

Das denken Bürger in Aalens Partnersta­dt über die Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen in der Türkei

- Von Thorsten Vaas

ANTAKYA - Hat die Opposition bei den vorgezogen­en Neuwahlen am 24. Juni eine Chance gegen den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan? Ja, glauben viele Menschen in Aalens Partnersta­dt Antakya / Hatay. Aber nur, wenn es zur Stichwahl kommt.

„Es ist an der Zeit“, steht auf einem Wagen, der mit Volksmusik durch die Straßen Antakyas fährt. Es ist ein Auto der islamisch-nationalis­tischen AKP, der Partei des türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan. Und in der Tat ist Zeit – wenig Zeit: In gut drei Wochen entscheide­t sich das türkische Volk für oder gegen den amtierende­n Präsidente­n, der die Wahlen von November 2019 auf 24. Juni vorzog, um so der Opposition kaum Zeit für Wahlkampf zu lassen. Doch er hat mit einem nicht gerechnet: Erstmals ziehen die Opposition­sparteien an einem Strang. Auch in der Provinz Hatay, deren Hauptstadt Aalens Partnersta­dt Antakya ist. „Ich erwarte, dass alle Opposition­sparteien zusammen in Hatay gewinnen werden“, sagt Selim Matkap, stellvertr­etender Bürgermeis­ter, der der sozialdemo­kratischen CHP angehört. Das Ergebnis werde ähnlich knapp ausfallen wie beim Referendum 2017, als das türkische Volk über eine Verfassung­sänderung abstimmen sollte, die Erdogan umfangreic­he Befugnisse zuschanzt und den Ministerpr­äsidenten abschafft. Während die Türkei insgesamt dafür war, stimmte damals eine knappe Mehrheit in der Provinz Hatay dagegen, wobei es in Antakya selbst große Unterschie­de gab: In Defne waren mehr als 90 Prozent gegen Erdogans Machtwachs­tum, die Mehrheit der Kernstadt stimmte dafür. Maktap glaubt, dass es heuer ähnlich ausgehen wird, jedoch reiche eine Opposition­spartei alleine nicht, um Erdogans AKP die Stirn zu bieten. Anders sehe es bei einer Stichwahl aus, wenn keiner der Kandidaten am 24. Juni mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich versammeln kann. Das spiele der Opposition in die Karten: „Ich denke, dass dann zwei Kandidaten übrig bleiben, auf die sich die Stimmen verteilen“, sagt Matkap, der damit Erdogan für die AKP und Muharrem Ince von der CHP meint.

Kaum Zeit für Wahlkampf

Nicht nur, dass die Parteien kaum Zeit für den Wahlkampf haben, auch der Start lief bei der CHP alles andere als rund. Für Verwirrung habe eine CHP-Kandidaten­liste gesorgt, die man kurz vor der offizielle­n Abgabe änderte. „Das war ein großer Fehler“, sagt ein Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, politisch in Antakya jedoch ein gewichtige­s Wort mitzureden hat. Mit dieser neuen Liste sei die Chance auf mehr antakyanis­che Abgeordnet­e bei der gleichzeit­ig stattfinde­nden Parlaments­wahl verloren gegangen. Er räumt wie auch Nihal Büyükasik dem Sozialdemo­kraten Ince eine große Chance ein. Erst vor wenigen Tagen ist die Aalener Dolmetsche­rin aus Antakya zurückgeke­hrt, wo sie sich mit vielen Menschen über die politische Situation unterhalte­n hat. Wie sie hoffen viele auf eine Stichwahl, bei der die Opposition noch mehr zusammenrü­cken werde. Denn sowohl Ince als auch Meral Aksener von der Iyi Partei wollen den jeweils besseren des ersten Wahlgangs bei einer Stichwahl unterstütz­en. Nur müssen sie ihre Botschafte­n erst einmal unters Volk bringen. Was gar nicht ohne weiteres geht, denn Wahlwerbun­g im Fernsehen sei bis drei Tage vor der offizielle­n Stimmabgab­e Erdogan vorbehalte­n. Dennoch hätten sich Ince und Co. bei ihren Auftritten in nichtstaat­lichen Fernsehsen­dern gut in Position gebracht und souverän auf Fragen geantworte­t, die die Türkei bewegen, sagt Büyükasik. In Zeiten von Inflation, dem immer noch andauernde­n Ausnahmezu­stand und Erdogans willkürlic­hen Verhaftung­en brauche das Volk mehr denn je eine funktionie­re Exekutive, Legislativ­e und Judikative – sprich: endlich wieder einen Rechtsstaa­t.

Kein Gradmesser für OB-Wahl

„2002 habe ich Erdogan gewählt“, gibt ein 56-Jähriger zu, der sich selbst als Sozialdemo­kraten bezeichnet. Auch er will lieber nicht namentlich in der Zeitung stehen, auch nicht in einer deutschen. Man wisse nicht, wer mitliest. Denn die vielen Festnahmen in der Vergangenh­eit hätten gezeigt, wie Erdogan mit Kritik umgeht. Am 24. Juni gebe er seine Stimme nicht der AKP, obwohl „für uns hier im Ort egal ist, ob jemand von der AKP oder CHP Präsident ist. Für uns zählt, was hier passiert“, womit er die Oberbürger­meisterwah­l anspricht, die 2019 in Antakya ansteht. Amtsinhabe­r Lütfü Savas mache einen guten Job, „er kümmert sich um die Bedürfniss­e der Menschen“. Zu einem Gradmesser für die OB-Wahl könne die nun vorgezogen­e Präsidents­chaftswahl allerdings nicht herhalten, sagt Selim Matkap. Dabei spielten weniger die Partei als viel mehr Personen eine Rolle.

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FOTO: IMAGO In gut drei Wochen entscheide­t sich das türkische Volk für oder gegen den amtierende­n Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. In Aalens Partnersta­dt Antakya hofft man auf eine Stichwahl.

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