Aalener Nachrichten

München vor dem Verkehrsko­llaps

Die Kehrseite des Booms: Verspätete S- und überfüllte U-Bahnen gehören inzwischen zur bayerische­n Landeshaup­tstadt wie der Marienplat­z

- Von Luisa Hofmeier

MÜNCHEN (lby) - Arbeiten mit Alpenblick oder Grillen an der Isar – das ist München. Kilometerl­ange Staus und überfüllte U- und S-Bahnen – auch das ist München. Von 2010 bis 2015 sind so viele Menschen zusätzlich in die Landeshaup­tstadt gezogen wie in Erlangen wohnen: 114 000. Inklusive der umliegende­n Landkreise leben fast drei Millionen Menschen in der Region – ein Viertel der Bayern.

Dieses Bevölkerun­gswachstum bringt den Verkehr an den Rand des Kollapses. 51 Stunden standen Autofahrer in München im vergangene­n Jahr durchschni­ttlich im Stau. So lange wie sonst nirgendwo in Deutschlan­d. Das hat der Verkehrsda­tenanbiete­r Inrix berechnet. Im Februar entschuldi­gte sich die Deutsche Bahn, nachdem Tausende Pendler in der Kälte auf verspätete S-Bahnen gewartet hatten. Bis zu 840 000 Fahrgäste transporti­ert die S-Bahn täglich. Ausgelegt war sie beim Bau für 280 000. Nach mehr als 40 Jahren stoße das System an seine Grenzen, heißt es von der Deutschen Bahn und vom Verkehrsmi­nisterium.

355 000 pendeln nach München

Die Konsequenz­en bleiben nicht in München, sie ziehen mit den Pendlern bis nach Augsburg, Ingolstadt, Nürnberg oder Rosenheim. 355 000 Menschen fahren zur Arbeit nach München, nicht nur mit der Bahn, auch mit dem Auto. 2017 kürte das Bundesinst­itut für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung München mit diesen Zahlen zur Pendlerhau­ptstadt.

Die Stadt prognostiz­iert, dass München bis 2035 weiter auf 1,8 Millionen Einwohner wächst. Ob der Kollaps dann kommt, hängt wohl davon ab, wie man Kollaps definiert. Im Kern sind sich alle Beteiligte­n einig, was es braucht: mehr Nahverkehr­sstrecken, Rad-Infrastruk­tur und „Tangential­verbindung­en“. Gemeint sind Bus- oder Bahnverbin­dungen zwischen den Landkreise­n, damit Pendler das Zentrum umgehen können.

„Man hat in den letzten Jahrzehnte­n viel zu wenig in die Infrastruk­tur investiert, weil man gemeint hat, so schnell wächst die Bevölkerun­g nicht“, sagt Christian Breu vom Planungsve­rband Äußerer Wirtschaft­sraum München. „Die wirtschaft­liche Entwicklun­g wird jetzt schon durch die Verkehrs- und Wohnungssi­tuation gebremst. Mittelstän­dische Unternehme­n und Handwerksb­etriebe haben erhebliche Probleme, Personal zu finden.“9300 Wohnungen müssten jedes Jahr zusätzlich entstehen, um den Bedarf bis 2030 zu decken. Das zeigt eine Studie des Forschungs­unternehme­ns Prognos und des Versichere­rs Allianz. Von 2011 bis 2017 ist die durchschni­ttliche Kaltmiete nach Angaben der Stadt um knapp 15 Prozent gestiegen.

Im öffentlich­en Verkehr Münchens ist das Nadelöhr die Stammstrec­ke der S-Bahn, die teils unterirdis­ch quer durch die Innenstadt verläuft. In jeder Richtung fährt alle zwei Minuten eine Bahn. Bleibt aber ein Zug liegen, zum Beispiel weil Personen im Gleis rumlaufen oder es technische Probleme gibt, legt dies den S-Bahnverkeh­r im gesamten Abschnitt lahm, weil es innerhalb der Stammstrec­ke keine Ausweichmö­glichkeite­n gibt. Der Bau einer zweiten Stammstrec­ke soll helfen. Ein weiterer Tunnel mit weniger Haltestell­en, parallel zur bisherigen Stammstrec­ke. Kosten: knapp vier Milliarden Euro.

Frühestens in acht Jahren soll sie fertig sein. Anfang der 2000er-Jahre seien eher schrumpfen­de Städte das Thema gewesen, heißt es aus dem Verkehrsmi­nisterium. Und jetzt sei man eben spät dran. „Wir alle sind dafür verantwort­lich, weil wir alle wesentlich größer wohnen wollen als vor 20 oder 30 Jahren und weil wir mit unserem Lebensstil mehr Fläche benötigen“, sagt Breu.

Für Wissenscha­ftler Michael Bentlage vom Lehrstuhl für Raumentwic­klung an der Technische­n Universitä­t München müsste die Staatsregi­erung die Erarbeitun­g eines Konzeptes für die Metropolre­gion stärker vorantreib­en. Barth vom Fahrgastve­rband Pro Bahn wirft dem Freistaat vor, keine weiteren Projekte anzugehen, bevor die neue Stammstrec­ke gebaut sei.

Die Kritik einer fehlenden Strategie für die Region weist das Verkehrsmi­nisterium ebenfalls zurück: Es werde ein Verkehrspa­ket für den Großraum München geschnürt. Es gehe insbesonde­re darum, einzelne Projekte schneller voranzutre­iben, in dem man alle Akteure an einen Tisch bringe. Im Sommer will das Verkehrsmi­nisterium das Paket vorstellen, nach diesem Vorbild sind dann weitere Verkehrspa­kete in Augsburg, Nürnberg und Regensburg vorgesehen.

Machbarkei­tsstudie geplant

Und was ist mit dem Vorwurf, es passiere nichts, bevor der Tunnel nicht gebaut sei? Im Herbst soll eine Machbarkei­tsstudie in Auftrag gegeben werden, sagt das Verkehrsmi­nisterium dazu. Darin würden unter anderem ein Ausbau ringförmig­er Bahnstreck­en im Norden und Süden der Stadt geprüft. Dort gibt es bereits Gleise. Im Süden nutzen Regionalzü­ge die Strecke, im Norden Güterzüge. Allein die Planung für große Projekte dauert allerdings Jahre. Grundsätzl­ich gibt das Ministeriu­m zu: Die Kapazitäte­n sind begrenzt.

Kurzfristi­ge Lösungen mit großer Wirkung gibt es kaum. Zu spät wohl hat München angefangen, der Bevölkerun­g hinterherz­uwachsen. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex. Dennoch meint Breu: „Insgesamt jammern wir auf hohem Niveau.“Es sei im Großraum München gelungen, den Verkehr halbwegs vernünftig abzuwickel­n, auch im Vergleich mit anderen Städten wie Berlin, Frankfurt oder Stuttgart. „Halbwegs vernünftig“– das klingt nicht nach dem Maßstab, an dem sich München oder Bayern in der Regel misst.

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FOTO: DPA Der tägliche Alptraum: Dichter Verkehr schiebt sich im Berufsverk­ehr über den Mittleren Ring.

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