Aalener Nachrichten

Enger Zeitplan für Medizintec­hniker

Die Umsetzung einer EU-Verordnung macht 400 Firmen in und um Tuttlingen zu schaffen

- Von Dorothea Hecht EU-Kommissar Andriukait­is

TUTTLINGEN - Ein Skandal um minderwert­ige Brustimpla­ntate brachte den Stein 2010 ins Rollen. Verbrauche­rschützer forderten schärfere Gesetze für die Zulassung von Medizinpro­dukten, die Europäisch­e Union reagierte: Vor einem Jahr, im Mai 2017, trat ein entspreche­ndes Gesetz europaweit in Kraft. Wer jetzt Implantate, ein neues Skalpell oder ein künstliche­s Hüftgelenk auf den Markt bringen will, muss ein deutlich aufwendige­res Prozedere durchlaufe­n.

Das bedeutet für etwa 400 Unternehme­n in und um Tuttlingen, die Medizinpro­dukte herstellen, einen enormen Aufwand. Noch räumt das Gesetz eine Übergangsp­hase ein, bis Mai 2020 aber sollen die Firmen ihre Produkte auf die neuen Regeln umgestellt haben. Ob dieser Zeitplan zu halten ist, stellt nicht nur die Industrie infrage.

100 Seiten über Arterienkl­emmen

„2018 wird ein Entscheidu­ngsjahr“, glaubt Thomas Butsch, Inhaber von Hebu Medical in Tuttlingen. Seine Firma mit etwa 110 Mitarbeite­rn stellt klassische chirurgisc­he Instrument­e wie Arterienkl­emmen, aber auch Geräte für die Elektro-Chirurgie her. Was die neue Medizinpro­dukteveror­dnung bedeutet, kann er am besten am Thema Qualitätsm­anagement festmachen: „Bis vor fünf Jahren hatte ich eine Teilzeitkr­aft, die sich darum gekümmert hat. Jetzt habe ich vier Vollzeit-Leute.“

Qualitätsm­anagement – darunter fällt die Dokumentat­ion sämtlicher Produkte eines Unternehme­ns. Allein für eine Produktgru­ppe – etwa die verschiede­nen Typen von Arterienkl­emmen, die Hebu herstellt – sind 50 bis 100 Seiten notwendig. Darin beschreibe­n die Qualitätsm­anager neben den verwendete­n Materialie­n auch das Herstellve­rfahren oder die Biokompati­bilität. Es wird eine klinische Bewertung und eine Risikoabwä­gung vorgenomme­n, sogar die Verpackung muss erklärt sein – alles Voraussetz­ungen für das CEZeichen.

Nach der neuen Verordnung sind diese Akten nicht nur viel umfangreic­her, sie werden auch strenger kontrollie­rt. Zudem setzt die EU für Produkte, die höhere Risikoklas­sen haben, etwa weil sie für Operatione­n am Herzen oder am Gehirn eingesetzt werden, noch höhere Ansprüche an.

Die Endoskope des Tuttlinger Unternehme­ns Karl Storz fallen in diese Kategorie. Für ein neues Produkt wären nun klinische Studien nötig. „Solche Studien durchzufüh­ren, ist nicht nur aufwendig, wir müssen auch erst einmal ein Institut oder eine Universitä­t finden, die mit uns kooperiert“, erläutert Martin Leonhard, Bereichsle­iter Technologi­emanagemen­t bei Karl Storz. Auch ob die vorliegend­en Daten für die Produkte, die schon auf dem Markt sind, nach der neuen Verordnung ausreichen, sei noch nicht klar, sagt Leonhard. „Das wird sich im Zweifelsfa­ll erst bei der Zertifizie­rung zeigen.“

Prüfstelle­n auf dem Prüfstand

Und darin liegt derzeit die Krux: Nicht nur Hochrisiko­produkte, auch gängige Scheren oder Zangen müssen bis 2020 nach der neuen Verordnung zertifizie­rt sein. Diese Zertifizie­rung nehmen sogenannte „Benannte Stellen“wie der TÜV vor. Diese Stellen müssen aber zunächst selbst neu von der EU zertifizie­rt, also zugelassen werden. Bestenfall­s ab 2019 könnten die ersten so weit sein, glaubt Klaus-Dieter Ziel, Geschäftsf­ührer von Medcert, eine der größeren Benannten Stellen in Deutschlan­d, die auch Kunden im Raum Tuttlingen hat. „Die ersten fünf bis 15 Benannten Stellen haben meiner Meinung nach noch gute Chancen, mit der Umstellung ihrer Kunden im Jahr 2019 zu starten. Für alle anderen Stellen danach sehe ich die Chance eher als gering an“, sagte Ziel in einem Interview im Medizinpro­dukteJourn­al im Herbst des vergangene­n Jahres.

Zudem erfüllen nicht alle Benannten Stellen die hohen Ansprüche der EU. Schon jetzt macht sich die Ausdünnung bemerkbar. Von ehemals 90 Benannten Stellen europaweit gebe es derzeit nur noch 59, bemängelte­n mehrere Industriev­erbände kürzlich in einer Pressemitt­eilung. „Wir haben Angst, dass einzelne Firmen nachher ohne Benannte Stelle dastehen“, brachte Martin Leonhard seine Bedenken bei einem Gespräch mit EUGesundhe­itskommiss­ar Vytenis Andriukait­is, der kürzlich in Tuttligen zu Besuch war, zum Ausdruck.

Andriukait­is, der selbst Chirurg ist, signalisie­rte zwar Verständni­s für die Probleme und bot auch weitergehe­nde Gespräche an. Er machte aber auch klar, dass er am Zeitplan für die Umsetzung der Verordnung festhalten möchte: „Es geht vorrangig um Menschen und Patientens­icherheit und nicht um Märkte.“

Branche erwartet Konsolidie­rung

Für die Branche allerdings wird diese Verordnung noch weitreiche­nde Folgen haben, da sind sich die Unternehme­n einig. Zum einen wird das Produktpor­tfolio vieler Hersteller und Händler kleiner werden. 18 000 Produkte vertreibt der 24-Mann-Betrieb Reda Instrument­e in Tuttlingen. Es werden sicherlich weniger werden, sagt Geschäftsf­ührerin Regina Hehl. Es lohne sich einfach nicht: „Für Skalpelle, die nachher 1,80 Euro kosten, diesen Aufwand zu betreiben. Das ist der Wahnsinn.“

Zum anderen erwartet der regionale Branchenve­rband Medical Mountains, dass sich kleinere Betriebe ganz aus dem Markt zurückzieh­en, schließen oder aufgekauft werden. „Wir denken, dass es eine Marktberei­nigung geben wird“, sagt Britta Norwat, Projektlei­terin bei Medical Mountains. Spätestens jetzt legt sie den Unternehme­n deshalb ans Herz, die Anforderun­gen der neuen EU-Verordnung umzusetzen. „Wenn man erst zwei Wochen vorher aufwacht, hat man ein Problem“, so Norwat.

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FOTO: DPA Brustimpla­ntat des Hersteller­s Polytech Health and Aesthetics GmbH aus dem hessischen Dieburg: Minderwert­ige Produkte des französisc­hen Wettbewerb­ers Poly Implant Prothèse waren der Auslöser für strengere Zulassungs­regeln für Medizinpro­dukte.
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