Aalener Nachrichten

„Mehr Niveau, Sie sind in Tübingen!“

Der Kulturwiss­enschaftle­r Warneken blickt zurück auf „68“am Neckar

- Von Dieter Herz

Ein Abschnitt in Bernd Jürgen Warnekens Buch geht so: „Sex: Ja. Drugs: Nein. Rock ’n’ Roll: Manchmal.“Eine Art Selbstrefl­exion ist auch das ganze Buch, in dem der Autor die Geschehund Erlebnisse jener Jahre in den Blick nimmt, für die sich die Chiffre „68“eingebürge­rt hat: als Studenten gegen Vietnamkri­eg und Notstandsg­esetze, für ein freies Afrika und mehr Mitbestimm­ung auf die Straße gingen. Für seine von milder Ironie durchwirkt­e Rückschau hat Warneken Flugblätte­r, Thesenpapi­ere, Pressearti­kel und eigene Notizen jener Zeit gesichtet.

Ohne Mythenbild­ung

Ort der Handlung ist Tübingen. Hier wuchs der gebürtige Jenenser im großelterl­ichen Haus unweit der Stiftskirc­he auf. Hier studierte er Geschichte und Rhetorik; hier war er ab 1975 Dozent am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwiss­enschaft. Gleich nach dem Abitur war er Redakteur einer Studentenz­eitung geworden, neigte mal der sozialdemo­kratischen, mal eher der sozialisti­schen Weltsicht zu. Zu den Protagonis­ten der Bewegung zählt Warneken sich nicht. Mythenbild­ung in eigener Sache ist nicht seins.

Als seine Initiation für „68“nimmt er das Jahr 1965. Da erlebte er einen von gelindem Protest garnierten Wahlkampfa­uftritt von Bundeskanz­ler Erhard auf dem Tübinger Marktplatz. Des Kanzlers Klage über die Lage der Nation wurde damals mit einem hochgehalt­enen Plakat kommentier­t: „Mehr Niveau, Sie sind in Tübingen!“

Etwas forscher ging es später dann auch am Neckar zur Sache. Bis Juli 1969, bilanziert Warneken, gab es immerhin 20 größere Demonstrat­ionen und ungezählte Go-ins in Uni-Gremien und Vorlesunge­n. Ein Theologiep­rofessor namens Ratzinger setzte sich damals ins (noch) ruhigere Regensburg ab; manche Kommiliton­en zog es nach Berlin, Frankfurt, Heidelberg und in andere Protest-Hochburgen.

Leben mit den Bürgern

Mit Blick auf die vielen Studenten, Professore­n und sonstigen Akademiker lautet ein Bonmot: Tübingen hat keine Uni, sondern ist eine. Mithin, so Warneken, sei am Ort ein „strukturel­l unprovinzi­elles Milieu“zu gewärtigen. Im Prinzip. Denn vor allem herrschten kleinstädt­ische Verhältnis­se. Die Studiosi lebten mit Handwerker­n, Bauern und Wingertern Tür an Tür. (Und nicht selten, als Untermiete­r, mit ihnen dahinter.) Die Aufhebung des Privateige­ntums an den Produktion­smitteln lässt sich in einem solchen Mikrokosmo­s nur schwer einfordern.

Kurzum: Man ging, bei allem Stress zwischen (ggf. linken) Studenten und (rechtschaf­fenen wie auch rechten) Eingeboren­en, durchweg zivilisier­t miteinande­r um. Der Appell des Oberpedell­en, der bei der Besetzung des Rektorats mahnte, man möge das Mobiliar pfleglich behandeln, stieß nicht auf taube Ohren. Und wenn im „Schwäbisch­en Tagblatt“die Überschrif­t „Wieder Zerlegedem­onstration“erschien, ging es nicht um studentisc­hen Vandalismu­s, sondern um eine Veranstalt­ung der Fleischeri­nnung.

Auf den Putz gehauen wurde am Neckar wenig. Aber viel diskutiert. Frankfurte­r Schule und marxistisc­he Literaturt­heorie wollten durchgekau­t und exzerpiert sein. Und wenn’s ans Bücherklau­en ging, dann nicht bei Gastl, denn die Inhaberinn­en waren gute Bekannte von Ernst Bloch, der dort öfters rauchend und raunend in einem Sessel saß.

Lässt man diverse Splittergr­uppen außer Acht, so fokussiert­e sich das Gros studentisc­her Forderunge­n im Laufe der Zeit auf Mitbestimm­ung in Gremien und neue Ansätze etwa in den Sozial- und Geisteswis­senschafte­n. Themen wie Unterhaltu­ngsindustr­ie und Massenmedi­en hielten Einzug in die Seminare. Es wurde auch ein neues Fach kreiert: die Empirische Kulturwiss­enschaft, die im Tübinger Schloss an die Stelle der alten Volkskunde trat. Quasi ein Kollateral-Ergebnis.

Doch zurück ins Jahr 1965. Damals, so kolportier­te es der örtliche Bundestags­kandidat Heiner Geißler, sei Ludwig Erhard weinend aus Tübingen abgereist. Doch nicht unbotmäßig­e Studenten hatten dem Wahlkämpfe­r die Tränen in die Augen getrieben. Erhard hatte bei der Abfahrt das Autofenste­r herunterge­kurbelt, um ins Volk zu winken. Ein Verehrer griff seine Hand, der Chauffeur gab Gas, der Kanzler schrie auf – die Hand war gebrochen.

Bernd Jürgen Warneken: Mein 68 begann 65. Eine Tübinger Retrospekt­ive. 2018, Klöpfer & Meyer, 230 Seiten, 20 Euro.

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FOTO: GÖHNER Tübinger Studenten sind vor die Wohnung des Rektors gezogen, weil sie für eine politische Veranstalt­ung keinen Hörsaal bekamen. Rektor Gottfried Möllensted­t hört vom Balkon aus zu.

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