Impfquote im Süden gering
Schlechteste Werte bei Masern im Alb-Donaukreis
RAVENSBURG (nyf/tja) - Der AlbDonau-Kreis ist im Vergleich der Landkreise im Verbreitungsgebiet der „Schwäbischen Zeitung“das Schlusslicht in Sachen Masernimpfungen: Dort sind laut Robert-KochInstitut (RKI) 55,6 Prozent der Zweijährigen, die 2014 geboren wurden, geimpft. Knapp dahinter rangiert mit 58 Prozent der Ostalbkreis. Dann folgen Tuttlingen (59,9), Sigmaringen (65,5), der Zollernalbkreis (69,4), Ravensburg (71,3), Biberach (74,5) und der Bodenseekreis (76,6). An der Spitze liegt Lindau mit 78,8 Prozent. Die Werte ermittelte das RKI nach einer Anfrage der SPD-Landtagsfraktion. Die Wissenschaftler sind hierbei auf Schätzungen angewiesen, die sie aus Angaben von 17 Kassenärztlichen Vereinigungen ableiten.
Baden-Württemberg liegt mit 68,9 Prozent deutschlandweit auf dem vorletzten Rang hinter Sachsen (74,9), Hamburg (80,5) führt die Rangliste an. LEITARTIKEL,
LINDAU - Mit Schaum vor dem Mund an der Frontlinie irgendwelcher Impfdebatten zu stehen – so einer ist Harald zur Hausen sicher nicht. Dafür ist der leidenschaftliche Forscher zu sehr Faktenmensch. Der 82-Jährige hat das weiße Haar zu einem Scheitel gekämmt. Seine Kleidung wirkt ein bisschen zu groß. Seine Augen sind klar und lebendig, genauso sein Verstand, der auf jede Frage ohne Zögern mit präzisen Antworten reagiert. Seine Stimme klingt ruhig und sachlich. Nur an den Rändern ist der geborene Westfale in ihm herauszuhören. Ein Mensch der Ratio, kein Schwätzer, kein Eiferer.
Wahrscheinlich fällt es ihm auch deshalb nicht leicht, überhaupt um etwas streiten zu sollen, das aus der Perspektive von nachgewiesenen Tatsachen so eindeutig ist wie Wirksamkeit und Nutzen von Impfungen. Vielleicht klingt der Satz, der all das auf den Punkt bringt, gerade deswegen so beiläufig und unaufgeregt: „Pocken, Kinderlähmung oder die Tollwut: Diese Krankheiten sind bei uns ausgerottet.“Nicht zufällig. Sondern durch Immunisierung. „Wir wissen ja gar nicht, wer sein heutiges Leben den Impfungen von Eltern oder Großeltern verdankt.“
Nobelpreis für Medizin
Und solche Sätze sagt nicht irgendwer hier in diesem nüchternen Interviewraum der Lindauer Inselhalle, sondern ein Mensch, der für den Nachweis, dass bestimmte Viren Gebärmutterhalskrebs auslösen können, die wichtigste Auszeichnung der Welt bekommen hat. Die daraus resultierende Impfung hat in Ländern wie Australien, wo sie früh eingeführt worden ist, zu messbaren Veränderungen geführt, sprich: Die Hinweise verdichten sich mit dem größer werdenden Abstand zur Einführung der Impfung, dass weniger Frauen an Tumoren sterben. „Auch weil die Impfung gegen Vorstufen verschiedener Krebsarten wirkt, die mit humanen Papillomaviren (HPV) assoziiert sind“, erklärt Harald zur Hausen. Gerade die Vorstufen seien in Australien „drastisch“zurückgegangen seit Einführung der Impfung. „Es zeichnet sich klar ab, dass das dann auch für den Krebs selbst gilt, weil die Vorstufen notwendige Voraussetzung sind, dass überhaupt Krebs entsteht.“
Neben dem Gebärmutterhalskrebs existiert noch eine Reihe anderer durch HPV begünstigte Krebsarten, die Tumoren des Analund Genitalbereichs betreffen. „Aber auch im Bereich von Rachen und Hals bei Jungen“, betont Harald zur Hausen. Deshalb wünscht er sich nicht nur, die Impfrate bei Mädchen zu erhöhen, sondern auch bei Knaben. Das sieht die Stiko (Ständige Impfkommission, angesiedelt am Robert Koch Institut) seit Anfang Juni genauso und empfiehlt die Impfung für männliche Heranwachsende im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren.
„Doch das kommt für Jungen zehn Jahre zu spät“, sagt der Forscher. Und warum? „Na ja – mit dem etwas platten Argument, dass Jungen keinen Gebärmutterhalskrebs bekommen.“Aber um den gehe es naturgemäß auch nicht, sondern: „Männer zwischen 15 und 40 Jahren haben mehr Sexualpartner als Frauen der gleichen Altersgruppe, das ist der Hauptgrund, der für die Impfung auch bei Jungen spricht. Da geht es um die Übertragung der Infektion mit HPV.“Die Impfung wirke mit hoher Wahrscheinlichkeit, auch wenn es aufgrund der relativ kurzen Zeit seit der Einführung statistisch noch nicht nachweisbar sei, denn: Zwischen Infektion und Krebsauftreten vergingen 15 bis 30 Jahre. „Außerdem gibt es Genitalwarzen – eine sehr unerfreuliche Krankheit beider Geschlechter – die sich mit der Impfung sehr gut verhindern lassen, wie bereits nachgewiesen wurde.“
Für Harald zur Hausen sind das Erfolge, über die er sich in aller Bescheidenheit freut. Was seinen Frohsinn allerdings deutlich bremst, ist der Umstand, dass es so lange gedauert habe, bis die Impfung gegen die Papillomaviren überhaupt gekommen sei. Und dass sie in Deutschland auf noch immer große Skepsis stößt – Expertenschätzungen gehen davon aus, dass lediglich ein Drittel aller Mädchen im empfohlenen Alter zwischen neun und siebzehn Jahren geimpft sind. Jungen noch viel weniger.
Aber der Nobelpreisträger, der zur jährlichen Tagung nach Lindau gekommen ist, lacht auch nicht über Menschen, die anders denken als er. Die ideologischer argumentieren, getrieben von einem Gedankengebäude, das sich eher aus Überzeugungen nähre statt aus Beweisen. Die Mundwinkel des Forschers zucken nur ganz leicht, wenn er die aus seiner Sicht grundfalsche Annahme immer wieder zu hören bekommt, man müsse der Natur ihren Lauf lassen. Man dürfe schulmedizinisch – und nichts anderes bedeuten Impfungen – nicht eingreifen, um am Ende gestärkt aus Krankheiten hervorzugehen. „Wir haben zu viele Apostel in der Gegend, die hier eine Meinung vertreten, die zumindest fachlich nicht zu begründen ist.“
„Unsinnig und unnötig“
Warum Impfgegner gegen wissenschaftliche Fakten und Menschen wie zur Hausen, die oft genug als Handlanger der Pharmaindustrie verunglimpft werden, zu Felde ziehen, kann er auch nicht sagen. „In Deutschland haben wir eine relativ klare Zahl von Impfgegnern, die sich auch gegen Masernimpfungen aussprechen.“Was dazu geführt habe, dass wieder Masernepidemien in kleinerem und etwas größerem Umfang ausgebrochen seien. „Und auch die ersten Kinder daran gestorben sind“, sagt Harald zur Hausen, und seine Stimme hebt sich zum ersten Mal deutlich. Völlig unsinnig und unnötig sei das. „Ich betrachte es eigentlich als einen Skandal, dass die Impfmüdigkeit so ausgeprägt ertragen wird.“Dabei verlangt der Nobelpreisträger keine Impfpflicht, sondern empfiehlt den Weg über die Schulen, wie das Beispiel Australien zeige. Dort sei die Impfrate auf über 80 Prozent angestiegen. „Kinder lassen sich auch bereitwilliger impfen, wenn sie sehen, dass auch andere geimpft werden. Da fehlt es bei uns.“
Dass so ein schulisches Impfprogramm auch in Deutschland wirkt, belegen Projekte an drei Schulen in Hessen: „Da sind die Impfraten von zuvor 40 auf 70 bis 80 Prozent gestiegen.“Dazu kommen Vorträge, die immer dann die größte Wirkung zeigten, wenn von Gebärmutterhalskrebs betroffene Frauen von ihrer Krankheit berichten. Die Schilderung echter Erfahrungen sei viel eindrucksvoller, als wenn Fachwissenschaftler bloß redeten.
„Das ist ein Weg, aber es gibt noch andere“, sagt Harald zur Hausen, und zwar über die Ärzte. „Sie sind die ersten Ansprechpartner – und interessanterweise sind einige nicht besonders gut informiert.“Es gebe auch bei Kinderärzten Verunsicherungen, aber die Fakten – auch „extrem niedrige“Nebenwirkungsraten – sprächen für sich.
Oder kommt die Impfmüdigkeit vielleicht daher, dass Wissenschaft zu wenig erklärt wird? „Wissen Sie, ich habe mich dafür wahnsinnig engagiert in den vergangenen Jahrzehnten und sehe eigentlich mit einer gewissen Frustration einen vergleichsweise geringen Erfolg“, sagt zur Hausen mit einem Klang von Resignation in der Stimme. Zum oft wiederholten Vorwurf der Käuflichkeit sagt er: „Wenn Sie Propaganda für eine Impfung machen, machen Sie zwangsläufig auch Propaganda für die Hersteller. Für mich persönlich kann ich aber sagen, dass ich dadurch keine Einnahmen habe.“Nicht aus Gründen der Bereicherung engagiere er sich, sondern „weil ich überzeugt bin, dass die Impfstoffe gut sind und dass sie helfen“, unterstreicht zur Hausen.
Der Nobelpreisträger hat sich in seinen Forschungen längst neuen Gebieten zugewandt, die die Frage aufwerfen: Kann es sein, dass unsere Nähe und der Verzehr von Rindfleisch und Milchprodukten die Ursache für Demenz sein könnten und der Schlüssel zu vielen Krebserkrankungen? Dazu sagt der Wissenschaftler: „Wir forschen tatsächlich an Infektionen, die von Rindern auf den Menschen übertragen werden können und mit denen wir wahrscheinlich alle bereits in früher Kindheit infiziert wurden.“Auch diese Erregertypen „seien sehr wahrscheinlich“an der Entstehung so häufiger Krebsarten wie Brust- oder Darmkrebs beteiligt, ist zur Hausen überzeugt. „Ich glaube, wir haben eine realistische Chance, auch hier wirksame präventive Maßnahmen zu entwickeln.“Und damit macht der Nobelpreisträger fast beiläufig Hoffnung darauf, dass die häufigsten Krebsarten nicht irgendwann, sondern auf Sicht von wenigen Jahrzehnten ihren Schrecken verlieren könnten.
Aber das würde ein Harald zur Hausen so nicht sagen. Dafür ist er zu sehr Faktenmensch. Und bis alle nötigen Belege auf dem Tisch liegen, macht der Nobelpreisträger seine Arbeit. Wie seit 60 Jahren schon.
„Wir haben zu viele Apostel, die eine Meinung vertreten, die fachlich nicht zu begründen ist.“Harald zur Hausen über Impfgegner
„Ich betrachte es als Skandal, dass die Impfmüdigkeit so ausgeprägt ertragen wird.“Harald zur Hausen empfiehlt den Weg über die Schulen