Aalener Nachrichten

„Die zusätzlich­e zweite Stufe halte ich für bedenklich“

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BERLIN - Zu den beiden Anhebungen beim Mindestloh­n befragte Tobias Schmidt Hagen Lesch (Foto: IW), Tarifexper­te beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW).

Ist die weitere Anhebung zum 1. Januar 2020 auf 9,35 Euro ein sinnvolles Vorgehen?

Die erste Stufe, ein Plus von 35 Cent auf 9,19 Euro zum 1. Januar 2019, war abzusehen. Das entspricht eins zu eins der Tariflohne­ntwicklung und wendet den bewährten Modus an. Die zusätzlich­e zweite Stufe halte ich für bedenklich. Ziel ist offenbar, die Mindestloh­nbezieher rasch von den üppigen Tarifabsch­lüssen des ersten Halbjahres profitiere­n zu lassen. Aber ich warne davor, den Mindestloh­n zu politisier­en und in Richtung 12 Euro zu treiben. Die Mindestloh­nkommissio­n ist unabhängig und darf nicht unter politische­n Druck gesetzt werden.

Selbst die Arbeitgebe­r stehen hinter dem Stufenmode­ll, weil es den Unternehme­n Planungssi­cherheit bringe.

Das sehe ich differenzi­erter. In vielen Branchen liegen die untersten Tarifentge­lte nur geringfügi­g über dem Mindestloh­n. Die vorgezogen­e Anhebung des Mindestloh­nes durch die zweite Stufe setzt die Tarifpartn­er unter unnötigen Druck, die Tarifentge­lte schneller anzuheben. Dadurch nimmt man den Unternehme­n Zeit, sich anzupassen. Die Dynamik wird umgekehrt: Höhere Mindestlöh­ne führen zu höheren Tariflöhne­n. Dabei soll sich der Mindestloh­n nach den Tarifentwi­cklungen richten. Das ist aus meiner Sicht systemwidr­ig.

Sozialverb­ände, Gewerkscha­ften und selbst Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) fordern zwölf Euro. Was wären die Folgen?

Die Betriebe würden unter einen massiven Kostendruc­k geraten. Dies würde Jobs kosten. Der Mindestloh­n ist aber ohnehin nicht das geeignete Instrument, um Armut zu bekämpfen und Altersarmu­t zu verhindern. Jeder Haushalt hat in Abhängigke­it seiner Personenza­hl und seiner Einkommen einen unterschie­dlichen Bedarf. Den kann ein allgemeine­r Mindestloh­n, der am Individuum anknüpft, nicht abbilden. Staatliche Transferza­hlungen aber schon.

In den gut drei Jahren seit der Einführung hat der Mindestloh­n aber keine Verwerfung­en am Arbeitsmar­kt bewirkt.

Der Mindestloh­n hat das Bewusstsei­n geschaffen, wo faire und nicht sittenwidr­ige Lohnunterg­renzen liegen. Das ist eine eindeutige Errungensc­haft. Ob der Mindestloh­n den Arbeitsmar­kt nicht belasten wird, ist keineswegs ausgemacht. Derzeit steigen die Energiepre­ise, die real verfügbare­n Einkommen der Haushalte werden dadurch kleiner. Wenn nun die Preise von Taxis, Friseuren und in der Gastronomi­e durch den höheren Mindestloh­n anziehen, könnte sich das durchaus negativ auswirken.

Wie kann die Umgehung des Mindestloh­ns verhindert werden?

Die Umsetzung muss konsequent­er kontrollie­rt werden. Dazu braucht die Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit mehr Personal. Die Betriebe dürfen aber nicht durch schärfere Dokumentat­ionspflich­ten überlastet werden.

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