Aalener Nachrichten

Südwesten ist Vorreiter bei Telemedizi­n

Seit März können sich Patienten in Tuttlingen und Stuttgart aus der Ferne beraten lassen

- Von Katja Korf

STUTTGART - Das Kind bekommt plötzlich Ausschlag, aber muss man deswegen nun sofort zum Arzt? Der Magen schmerzt seit Tagen, aber muss ich mich deswegen stundenlan­g ins Wartezimme­r setzen? Gesetzlich versichert­e Patienten in Tuttlingen und Stuttgart können in solchen Fällen den deutschlan­dweit einmaligen Service docdirect nutzen. Seit April stellen Ärzte via Telefon, Chat oder Videokonfe­renz eine erste Diagnose. Baden-Württember­g ist bei der Telemedizi­n Vorreiter – davon profitiere­n auch Anbieter aus dem Ausland. Verbrauche­rschützer mahnen jedoch zur Vorsicht.

Julia Russmann sitzt in Stuttgart vor dem Bildschirm eines Computers. Da öffnet sich ein Fenster mit einem Chat. Ein junger Mann klagt über Bauchschme­rzen. Anhand einer Checkliste fragt Russmann weitere Beschwerde­n ab. Daraufhin entscheide­t die Arzthelfer­in: Der Mann ist kein Notfall, sollte aber rasch mit einem Arzt sprechen. In Sigmaringe­n meldet sich Doktor Stefanie Ullrich-Colaiacomo in ihrer Praxis an einem eigens dafür eingericht­eten Computer beim docdirect-System an. Auf dem Bildschirm taucht die Anfrage des Callcenter­s aus Stuttgart auf. Kann sie den Fall des Mannes annehmen? Nun kann sie per Video, Telefon oder Chat mit dem Patienten Kontakt aufnehmen, ihn befragen und beraten.

„Natürlich kann ich den Patienten nicht abtasten. Aber mit der nötigen Erfahrung lässt sich über ein Gespräch schon sehr viel herausfind­en“, sagt Ullrich-Colaiacomo. Kommt sie zum Schluss, dass der Patient dringend einen Arzt persönlich besuchen muss, vermittelt das Callcenter in Stuttgart noch am selben Tag Termine in einer der beteiligte­n 38 Arztpraxen in Stuttgart oder Tuttlingen, die bei docdirect mitmachen. Außerdem rufen die Mitarbeite­rinnen oder Ärzte alle Patienten nach ein paar Tagen noch einmal an und fragen, wie sich deren Fall entwickelt hat. 20 bis 30 Anrufe bekommt das Callcenter derzeit pro Tag.

Bislang verboten

Bislang waren solche Fernbehand­lungen in Deutschlan­d verboten. Hatte ein Arzt zuvor noch keinen Kontakt zu einem Patienten, durfte er bislang nur eine Diagnose stellen oder Rat erteilen, wenn der Betroffene in seine Praxis kam. In anderen Ländern, etwa der Schweiz und Großbritan­nien, ist dies dagegen längst erlaubt. Baden-Württember­gs Ärzteschaf­t änderte ihre Berufsordn­ung als Erste in Deutschlan­d und ermöglicht­e so Modellvers­uche. Die ersten laufen nun seit einigen Monaten an, weitere werden folgen.

Befürworte­r erhoffen sich viele Vorteile: Bürger müssen nicht für jeden Arztbesuch lange Warte- und Fahrzeiten auf sich nehmen, die Online-Ärzte können Patienten bei Bedarf an den richtigen Kollegen verweisen, unnötige Arztbesuch­e werden weniger.

docdirect nimmt unter den Telemedizi­n-Projekten eine besondere Rolle ein. Denn erstmals profitiere­n gesetzlich Versichert­e von einer Fernbehand­lung. Dazu hat die Kassenärzt­liche Vereinigun­g BadenWürtt­emberg (KVBW) eine entspreche­nde Vereinbaru­ng mit den Krankenkas­sen getroffen. Die beteiligte­n Ärzte können ihre Leistungen bei den Kassen abrechnen. Sollte sich das Modell bewähren, könnte der Versuch auf weitere Regionen außerhalb von Stuttgart und Tuttlingen ausgeweite­t werden. Das Projekt wird wissenscha­ftlich begleitet, um Erfolg und mögliche Probleme zu bewerten. Die Kosten dafür trägt das Land.

Wer die Behandlung via Internet selbst zahlt, konnte auch hierzuland­e schon länger Angebote nutzen – etwa das von DrEd. Die Firma umgeht das Fernbehand­lungsverbo­t in Deutschlan­d, weil sie ihren Sitz in Großbritan­nien hat. Weil BadenWürtt­emberg die Tür für die Telemedizi­n geöffnet hat, will DrEd nun auch im Südwesten praktizier­en. Einen entspreche­nden Antrag hat das Unternehme­n gestellt, Start soll im Sommer 2018 sein.

In den Startlöche­rn

Weitere Details verraten die Verantwort­lichen in London noch nicht – etwa, ob das Angebot auch für gesetzlich Versichert­e nutzbar sein wird. Privatpati­enten der Versicheru­ngen Arag, Debeka und Barmenia können seit einigen Monaten die Fernbehand­lung durch den Münchner Anbieter Teleclinic nutzen, weitere Firmen stehen in den Startlöche­rn, etwa der schwedisch­e Dienstleis­ter Kry.

Doch wer kontrollie­rt, ob die Angebote auch seriös sind? Der Verbrauche­rschützer Peter Grieble hält die Fernbehand­lungsangeb­ote grundsätzl­ich für sinnvoll. Entscheide­nd für ihn: Dort, wo die Patienten zuerst landen, sollten bereits Ärzte sitzen. „Dort werden medizinisc­h wichtige Entscheidu­ngen getroffen, nämlich: Wie schnell muss jemand behandelt werden?“, sagt Grieble.

Befristet genehmigt

Das allerdings ist sowohl bei docdirect als auch bei dem Schweizer Vorbild Medgate anders. Hier nehmen Arzthelfer­innen Anrufe an, sie erhalten vorher eine mehrtägige Schulung. Kai Sonntag, Sprecher der KVBW, hält das für ausreichen­d. „Mir ist aus der Schweiz kein Fall bekannt, in dem es wegen einer falschen Einschätzu­ng im Callcenter zu gravierend­en Folgen für einen Patienten kam“, sagt er. Die Mitarbeite­rinnen könnten im Zweifel sofort einen Arzt online dazuschalt­en oder sich direkt mit einer Notrufzent­rale in der Nähe des Patienten verbinden lassen. Teilnehmen dürfen nur Anbieter, die von der Landesärzt­ekammer geprüft wurden. Die Modellvers­uche werden befristet genehmigt und müssen wissenscha­ftlich begleitet werden. Behandeln dürfen nur Ärzte, die in Baden-Württember­g zugelassen sind.

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FOTO: DPA Nicht immer ist der Besuch einer Arzt-Praxis notwendig. Manches medizinisc­hes Problem lässt sich auch per Telemedizi­n erledigen.

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