Die Deutschen mit der Russlandfahne
Sie sind hier geboren, leiden aber mit der russischen Mannschaft – Die Kinder der Spätaussiedler in Trossingen
TROSSINGEN - „Trosskau“wird die Stadt Trossingen zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb manchmal scherzhaft genannt. Tausende Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Kinder leben in der Kleinstadt. Seit die FußballWM in Russland begonnen hat, feierten gerade die Jungen jeden Sieg der Russen ausgelassen mit Autokorsos und Hupkonzerten. Zu den Spielen selbst treffen sie sich in einer russlanddeutschen Shishabar – Fans auf der Suche nach Identität zwischen Elfmetertoren und Tabakdunst.
Die meisten Wasserpfeifen sind schon ausgegangen, als sich die Verlängerung im Viertelfinale zwischen Russland und Kroatien dem Ende nähert. Sanft glimmen die Kohlereste auf den Tonköpfen vor sich hin. Ein Duftmix aus Mango-, Minz- und Ananastabak liegt in der Luft. Die gedämpfte Stimmung rührt aber daher, dass Kroatien seit einem Kullertor von Domagoj Vida in der 101. Minute in Führung liegt.
Bis der Ball nach einem Kopfball in der letzten Minute der Verlängerung im kroatischen Tor einschlägt. Alle in der „Escobar“drehen durch. Jubelschreie zerreißen die Luft, Fäuste fliegen in die Höhe und ein „Russia-Russia“-Chor erklingt. Russlandfahnen werden geschwenkt. Es steht 2:2. Noch glauben die Fans an einen Sieg.
Für Matthias Geissler ist das der Moment, sich ein Tablett zu schnappen und „Shots“auszuteilen. Kleine Schnäpse, die er seinen Gästen für jedes russische Tor versprochen hat. Jägermeister, kein Wodka. Der 24jährige Chef der „Escobar“ist ein Mann mit wachem Blick für seine Gäste. „Die Russen hier trinken keinen Wodka. Wir hier sind die Jungen.“Alle hat er vor dem Spiel mit Handschlag begrüßt. Ein kräftiger Handschlag ist das, der zu dem immer noch gut trainierten Ex-Boxer mit den tätowierten Oberarmen passt. Zwei Jahre lang war er Profi bei Hanau in der zweiten Bundesliga. Heute verwirklicht er mit der „Escobar“seinen Traum von der Selbstständigkeit.
Drinks und Tabak
Zeitsprung zurück zum Mittwoch vor dem Spiel. Geissler sitzt in einem Sessel in der Bar und erzählt mit leiser Stimme von den Anfängen und aus seinem Leben. Auf der Leinwand im Hintergrund laufen DeutschrapVideos. „Das war eine spontane Idee. Ich bin eigentlich ausgebildeter Außenhandelskaufmann, aber irgendwann war der Plan da, eine Bar zu eröffnen.“Shisha raucht er selbst kaum, aber Geissler hat Geschäftssinn. Und er weiß, was gut ankommt heutzutage.
Deshalb gibt es neben den üblichen Drinks und lauter Musik eben auch Wasserpfeifen. Und Fußball. Jedes Spiel der WM wird übertragen. „Aber wenn das Finale Mexiko gegen Iran heißt, ist hier nichts los.“Das ist ein Grund dafür, dass Geissler sich mit der russischen Mannschaft freut. Der andere: Seine Eltern kamen wie Hunderttausende andere als Spätaussiedler in den frühen 1990ern aus den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion nach Deutschland. Geissler ist hier geboren. „Ich bin Deutscher. Aber wenn die russische Mannschaft spielt, fiebere ich auch mit“, sagt er. Das gleiche gelte für sein Publikum. Die Mehrheit seien Russlanddeutsche, Matthias Geissler, Sohn von Spätaussiedlern und Betreiber der „Escobar“in Trossingen aber auch Deutsche kämen, Türken, Bulgaren und wer immer wolle. Da die deutsche Mannschaft ausgeschieden ist, bleibt für Fanseele und Geschäft nur noch die russische.
„Nach meinem Eindruck ist das Phänomen von Spätaussiedlern als Fans der russischen Mannschaft ziemlich neu“, sagt Jannis Panagiotidis von der Universität Osnabrück. Der Juniorprofessor für Russlanddeutsche Migration und Integration sieht dafür mehrere Gründe. Einerseits spiele das relativ erfolgreiche Abschneiden der russischen Mannschaft eine Rolle. „Andererseits ist die stärkere Identifikation mit russland vielleicht eine Reaktion auf eine Stigmatisierung. Nach dem Motto: Wenn ich ohnehin als Russe bezeichnet werde, dann bin ich eben erst recht einer.“Das habe es vor allem Anfang der 1990er-Jahre gegeben, aber auch heute noch. Zusätzlich trage die zunehmende Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses zu einer Polarisierung bei.
Trossingen ist ein Mikrokosmos für diese Phänomene. „Hier leben rund 3000 Spätaussiedler“, sagt der parteilose Bürgermeister Clemens Maier. Genaue Zahlen gibt es nicht, da alle über einen deutschen Pass verfügen. „Sie haben sich etabliert, Existenzen aufgebaut und sind in der Gemeinde angekommen. Gerade aus der zweiten Generation haben sich viele selbstständig gemacht.“Nicht alle Trossinger sähen allerdings die Erfolgsgeschichte.
Gerade gegenüber den zahlreichen evangelischen Freikirchen, streng religiösen Gruppen, in denen viele Russlanddeutsche engagiert seien, gebe es Vorbehalte. 2015 hatte zudem ein Mord für Aufsehen gesorgt. Eine freikirchliche russische Organisation hatte Drogensüchtige und psychisch Kranke aus Russland für fragwürdige Behandlungen nach Trossingen gebracht. Einer der Patienten erstach eine Anwohnerin brutal in ihrem Vorgarten. Vor Gericht erklärte er, dass Stimmen ihm die Tat befohlen hätten. Die Organisation löste sich danach auf.
Projektion der Heimat
Alexander Kandlen ist einer aus der Elterngeneration der Russlanddeutschen in Trossingen. Der 48-Jährige hält Kondensmilch mit russischem Etikett in der Hand. „Eine Spezialität. Die läuft besonders gut.“Made in the Netherlands steht unten auf der Dose. „Das ist bei vielen Produkten so. Die Rezepte kommen aus Russland, hergestellt werden sie aber in Deutschland, Holland oder Frankreich“, sagt der Geschäftsführer des Rotkäppchen-Supermarkts im Trossinger Schwabenpark. Trotzdem erinnern die Spezialitäten an die Heimat oder die der Eltern, genau wie der Markt selbst. Die meisten Kunden seien Russlanddeutsche, sagt Kandlen.
Mangelnde Authentizität ist bei der Erinnerung nicht unbedingt ein Problem. „Meine Söhne lieben Gerichte wie Schaschlik oder Borschtsch. Typisch russische Speisen. So wie sie in Russland zubereitet werden, haben sie sie aber noch nie gegessen.“Es ist mehr das Bild einer Heimat, das fasziniert, die Projektion. „Die Jungen haben gar kein Interesse daran, für längere Zeit nach Russland zu gehen“, erzählt Kandlen. Er selbst ist vor 28 Jahren nach Deutschland gekommen, heute ist er verheiratet und hat drei Kinder mit seiner Frau.
Beide kamen aus Kasachstan, haben sich aber erst in Deutschland kennengelernt. Fußball sagt er, interessiert ihn nicht besonders. „Ich schaue nur manchmal, wenn ich Zeit habe.“Seine Söhne seien mehr für die Russen als für die deutsche Mannschaft. „Die feiern einfach besser, machen mehr Party. Die Deutschen bleiben mehr für sich selbst.“
Erfolg mit Schwächen
Integrationsforscher Jannis Panagiotidis tut sich angesichts der neuen Identifikation mit der Sbornaja, der russischen Mannschaft, schwer mit einem abschließenden Fazit: „Die Integration von Russlanddeutschen trägt Elemente einer Erfolgsgeschichte in sich, das heißt aber nicht, dass alles gut ist. Erfolg oder Misserfolg, beides wäre zu pauschal.“Wirtschaftlich hätten sich die meisten Spätaussiedler gut integriert. Die Eltern, aber auch die jungen wie Matthias Geissler.
„Das sagt aber noch nichts über die emotionale Verortung. Aber selbst die sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie gut jemand integriert ist. Dafür ist das Umfeld entscheidend. Wenn jemand gleichzeitig Russe und Deutscher sein kann, ist das ein Erfolg.“
Matthias Geissler und seine Freunde gehen in gewisser Weise sogar noch weiter. Auf einem Sofa in der Mitte der Bar sitzt Edip Sermelioglu. Er ist selbst Besitzer einer Shishabar in Schwenningen. „Matthias ist ein guter Freund, deshalb sind wir hier.“Dass er einen russlanddeutschen Kollegen habe, sei zwar ungewöhnlich, aber „eine tolle Sache“. Auch Sermelioglu, der türkische Vorfahren hat, ist heute Russlandfan. „Die Flagge ist schon bereit für den Autokorso“, sagt er in der Halbzeitpause. Yilmaz G., ein Stammgast, erklärt, wie es zu der auf den ersten Blick erstaunlichen Fangemeinschaft kommt. „Wir sind alle Freunde hier, mehr noch: eine Familie.“Das liege vor allem am Besitzer. „Matze ist ein Mensch, der hilft und für jeden da ist. Da gibt es keine Grenzen.“Wenn Deutschland heute spielen würde, dann wären sie alle heute auch hier, das ist der Tenor der Gäste. Deutsch sein und gleichzeitig russisch? Kein Problem.
Wie die Deutschen scheitern am Ende aber auch die Russen. Der Kroate Ivan Rakitic schießt die Gastgeber mit dem letzten Elfmeter aus dem Turnier. Diesmal gibt es keine Jubelschreie, die „Escobar“versinkt im Schweigen. Gemeinsam hätten sie gerne einen Sieg gefeiert für das Land ihrer Eltern, zu dem sie immer noch ein ganz spezielles Verhältis haben. „Ich hätte es ihnen schon gegönnt. Aber Kroatien hat verdient gewonnen“, sagt „Escobar“-Chef Geissler. Stolz ist er trotzdem, auf die Mannschaft, aber vor allem auf „die geile Stimmung hier“.
Die Russlandfahnen werden eingerollt, die Kohlen sind inzwischen verglüht. Statt zum Autokorso geht es jetzt zusammen zu einer Geburtstagsfeier in die „Russendisko“.
„Ich bin Deutscher. Aber wenn die russische Mannschaft spielt, fiebere ich auch mit“