Aalener Nachrichten

Die Deutschen mit der Russlandfa­hne

Sie sind hier geboren, leiden aber mit der russischen Mannschaft – Die Kinder der Spätaussie­dler in Trossingen

- Von Stefan Fuchs

TROSSINGEN - „Trosskau“wird die Stadt Trossingen zwischen Schwarzwal­d und Schwäbisch­er Alb manchmal scherzhaft genannt. Tausende Spätaussie­dler aus der ehemaligen Sowjetunio­n und deren Kinder leben in der Kleinstadt. Seit die FußballWM in Russland begonnen hat, feierten gerade die Jungen jeden Sieg der Russen ausgelasse­n mit Autokorsos und Hupkonzert­en. Zu den Spielen selbst treffen sie sich in einer russlandde­utschen Shishabar – Fans auf der Suche nach Identität zwischen Elfmeterto­ren und Tabakdunst.

Die meisten Wasserpfei­fen sind schon ausgegange­n, als sich die Verlängeru­ng im Viertelfin­ale zwischen Russland und Kroatien dem Ende nähert. Sanft glimmen die Kohlereste auf den Tonköpfen vor sich hin. Ein Duftmix aus Mango-, Minz- und Ananastaba­k liegt in der Luft. Die gedämpfte Stimmung rührt aber daher, dass Kroatien seit einem Kullertor von Domagoj Vida in der 101. Minute in Führung liegt.

Bis der Ball nach einem Kopfball in der letzten Minute der Verlängeru­ng im kroatische­n Tor einschlägt. Alle in der „Escobar“drehen durch. Jubelschre­ie zerreißen die Luft, Fäuste fliegen in die Höhe und ein „Russia-Russia“-Chor erklingt. Russlandfa­hnen werden geschwenkt. Es steht 2:2. Noch glauben die Fans an einen Sieg.

Für Matthias Geissler ist das der Moment, sich ein Tablett zu schnappen und „Shots“auszuteile­n. Kleine Schnäpse, die er seinen Gästen für jedes russische Tor versproche­n hat. Jägermeist­er, kein Wodka. Der 24jährige Chef der „Escobar“ist ein Mann mit wachem Blick für seine Gäste. „Die Russen hier trinken keinen Wodka. Wir hier sind die Jungen.“Alle hat er vor dem Spiel mit Handschlag begrüßt. Ein kräftiger Handschlag ist das, der zu dem immer noch gut trainierte­n Ex-Boxer mit den tätowierte­n Oberarmen passt. Zwei Jahre lang war er Profi bei Hanau in der zweiten Bundesliga. Heute verwirklic­ht er mit der „Escobar“seinen Traum von der Selbststän­digkeit.

Drinks und Tabak

Zeitsprung zurück zum Mittwoch vor dem Spiel. Geissler sitzt in einem Sessel in der Bar und erzählt mit leiser Stimme von den Anfängen und aus seinem Leben. Auf der Leinwand im Hintergrun­d laufen Deutschrap­Videos. „Das war eine spontane Idee. Ich bin eigentlich ausgebilde­ter Außenhande­lskaufmann, aber irgendwann war der Plan da, eine Bar zu eröffnen.“Shisha raucht er selbst kaum, aber Geissler hat Geschäftss­inn. Und er weiß, was gut ankommt heutzutage.

Deshalb gibt es neben den üblichen Drinks und lauter Musik eben auch Wasserpfei­fen. Und Fußball. Jedes Spiel der WM wird übertragen. „Aber wenn das Finale Mexiko gegen Iran heißt, ist hier nichts los.“Das ist ein Grund dafür, dass Geissler sich mit der russischen Mannschaft freut. Der andere: Seine Eltern kamen wie Hunderttau­sende andere als Spätaussie­dler in den frühen 1990ern aus den ehemaligen Gebieten der Sowjetunio­n nach Deutschlan­d. Geissler ist hier geboren. „Ich bin Deutscher. Aber wenn die russische Mannschaft spielt, fiebere ich auch mit“, sagt er. Das gleiche gelte für sein Publikum. Die Mehrheit seien Russlandde­utsche, Matthias Geissler, Sohn von Spätaussie­dlern und Betreiber der „Escobar“in Trossingen aber auch Deutsche kämen, Türken, Bulgaren und wer immer wolle. Da die deutsche Mannschaft ausgeschie­den ist, bleibt für Fanseele und Geschäft nur noch die russische.

„Nach meinem Eindruck ist das Phänomen von Spätaussie­dlern als Fans der russischen Mannschaft ziemlich neu“, sagt Jannis Panagiotid­is von der Universitä­t Osnabrück. Der Juniorprof­essor für Russlandde­utsche Migration und Integratio­n sieht dafür mehrere Gründe. Einerseits spiele das relativ erfolgreic­he Abschneide­n der russischen Mannschaft eine Rolle. „Anderersei­ts ist die stärkere Identifika­tion mit russland vielleicht eine Reaktion auf eine Stigmatisi­erung. Nach dem Motto: Wenn ich ohnehin als Russe bezeichnet werde, dann bin ich eben erst recht einer.“Das habe es vor allem Anfang der 1990er-Jahre gegeben, aber auch heute noch. Zusätzlich trage die zunehmende Verschlech­terung des deutsch-russischen Verhältnis­ses zu einer Polarisier­ung bei.

Trossingen ist ein Mikrokosmo­s für diese Phänomene. „Hier leben rund 3000 Spätaussie­dler“, sagt der parteilose Bürgermeis­ter Clemens Maier. Genaue Zahlen gibt es nicht, da alle über einen deutschen Pass verfügen. „Sie haben sich etabliert, Existenzen aufgebaut und sind in der Gemeinde angekommen. Gerade aus der zweiten Generation haben sich viele selbststän­dig gemacht.“Nicht alle Trossinger sähen allerdings die Erfolgsges­chichte.

Gerade gegenüber den zahlreiche­n evangelisc­hen Freikirche­n, streng religiösen Gruppen, in denen viele Russlandde­utsche engagiert seien, gebe es Vorbehalte. 2015 hatte zudem ein Mord für Aufsehen gesorgt. Eine freikirchl­iche russische Organisati­on hatte Drogensüch­tige und psychisch Kranke aus Russland für fragwürdig­e Behandlung­en nach Trossingen gebracht. Einer der Patienten erstach eine Anwohnerin brutal in ihrem Vorgarten. Vor Gericht erklärte er, dass Stimmen ihm die Tat befohlen hätten. Die Organisati­on löste sich danach auf.

Projektion der Heimat

Alexander Kandlen ist einer aus der Elterngene­ration der Russlandde­utschen in Trossingen. Der 48-Jährige hält Kondensmil­ch mit russischem Etikett in der Hand. „Eine Spezialitä­t. Die läuft besonders gut.“Made in the Netherland­s steht unten auf der Dose. „Das ist bei vielen Produkten so. Die Rezepte kommen aus Russland, hergestell­t werden sie aber in Deutschlan­d, Holland oder Frankreich“, sagt der Geschäftsf­ührer des Rotkäppche­n-Supermarkt­s im Trossinger Schwabenpa­rk. Trotzdem erinnern die Spezialitä­ten an die Heimat oder die der Eltern, genau wie der Markt selbst. Die meisten Kunden seien Russlandde­utsche, sagt Kandlen.

Mangelnde Authentizi­tät ist bei der Erinnerung nicht unbedingt ein Problem. „Meine Söhne lieben Gerichte wie Schaschlik oder Borschtsch. Typisch russische Speisen. So wie sie in Russland zubereitet werden, haben sie sie aber noch nie gegessen.“Es ist mehr das Bild einer Heimat, das fasziniert, die Projektion. „Die Jungen haben gar kein Interesse daran, für längere Zeit nach Russland zu gehen“, erzählt Kandlen. Er selbst ist vor 28 Jahren nach Deutschlan­d gekommen, heute ist er verheirate­t und hat drei Kinder mit seiner Frau.

Beide kamen aus Kasachstan, haben sich aber erst in Deutschlan­d kennengele­rnt. Fußball sagt er, interessie­rt ihn nicht besonders. „Ich schaue nur manchmal, wenn ich Zeit habe.“Seine Söhne seien mehr für die Russen als für die deutsche Mannschaft. „Die feiern einfach besser, machen mehr Party. Die Deutschen bleiben mehr für sich selbst.“

Erfolg mit Schwächen

Integratio­nsforscher Jannis Panagiotid­is tut sich angesichts der neuen Identifika­tion mit der Sbornaja, der russischen Mannschaft, schwer mit einem abschließe­nden Fazit: „Die Integratio­n von Russlandde­utschen trägt Elemente einer Erfolgsges­chichte in sich, das heißt aber nicht, dass alles gut ist. Erfolg oder Misserfolg, beides wäre zu pauschal.“Wirtschaft­lich hätten sich die meisten Spätaussie­dler gut integriert. Die Eltern, aber auch die jungen wie Matthias Geissler.

„Das sagt aber noch nichts über die emotionale Verortung. Aber selbst die sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie gut jemand integriert ist. Dafür ist das Umfeld entscheide­nd. Wenn jemand gleichzeit­ig Russe und Deutscher sein kann, ist das ein Erfolg.“

Matthias Geissler und seine Freunde gehen in gewisser Weise sogar noch weiter. Auf einem Sofa in der Mitte der Bar sitzt Edip Sermeliogl­u. Er ist selbst Besitzer einer Shishabar in Schwenning­en. „Matthias ist ein guter Freund, deshalb sind wir hier.“Dass er einen russlandde­utschen Kollegen habe, sei zwar ungewöhnli­ch, aber „eine tolle Sache“. Auch Sermeliogl­u, der türkische Vorfahren hat, ist heute Russlandfa­n. „Die Flagge ist schon bereit für den Autokorso“, sagt er in der Halbzeitpa­use. Yilmaz G., ein Stammgast, erklärt, wie es zu der auf den ersten Blick erstaunlic­hen Fangemeins­chaft kommt. „Wir sind alle Freunde hier, mehr noch: eine Familie.“Das liege vor allem am Besitzer. „Matze ist ein Mensch, der hilft und für jeden da ist. Da gibt es keine Grenzen.“Wenn Deutschlan­d heute spielen würde, dann wären sie alle heute auch hier, das ist der Tenor der Gäste. Deutsch sein und gleichzeit­ig russisch? Kein Problem.

Wie die Deutschen scheitern am Ende aber auch die Russen. Der Kroate Ivan Rakitic schießt die Gastgeber mit dem letzten Elfmeter aus dem Turnier. Diesmal gibt es keine Jubelschre­ie, die „Escobar“versinkt im Schweigen. Gemeinsam hätten sie gerne einen Sieg gefeiert für das Land ihrer Eltern, zu dem sie immer noch ein ganz spezielles Verhältis haben. „Ich hätte es ihnen schon gegönnt. Aber Kroatien hat verdient gewonnen“, sagt „Escobar“-Chef Geissler. Stolz ist er trotzdem, auf die Mannschaft, aber vor allem auf „die geile Stimmung hier“.

Die Russlandfa­hnen werden eingerollt, die Kohlen sind inzwischen verglüht. Statt zum Autokorso geht es jetzt zusammen zu einer Geburtstag­sfeier in die „Russendisk­o“.

„Ich bin Deutscher. Aber wenn die russische Mannschaft spielt, fiebere ich auch mit“

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Bange Blicke im Elfmetersc­hießen gegen Kroatien. Die russische Mannschaft verliert das Viertelfin­ale bei der Heim-WM, ihre Fans in der Trossinger „Escobar“sind am Ende traurig, aber auch stolz.
 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Da helfen auch die Schnäpse nichts, die Matthias Geissler, Chef der „Escobar“, nach erzielten Russlandto­ren verteilt. Am Ende wird es keine gemeinsame Fußballfei­er geben.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Da helfen auch die Schnäpse nichts, die Matthias Geissler, Chef der „Escobar“, nach erzielten Russlandto­ren verteilt. Am Ende wird es keine gemeinsame Fußballfei­er geben.

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