Aalener Nachrichten

Aus dem Leben gerissen

Der Weingarten­er Steffen Müller hat Kampf gegen den Krebs verloren – Für seine Frau Peggy ist nichts mehr, wie es war

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Ein Eichhörnch­en klettert spielerisc­h einen Baum hinauf. Doch für Peggy Müller ist die Welt ein tiefschwar­zer Ort. Inmitten der saftig grünen Wiese zeugt ein frisch ausgehoben­es und neu bepflanzte­s Grab von dem tiefen Schmerz, den die 48-jährige Weingarten­erin empfindet. „Das ist dann alles, was bleibt“, sagt sie sichtlich bewegt. Die vergangene­n Monate haben an ihr gezehrt. Die sonst so positive, fröhliche und starke Frau wirkt erschöpft. Monatelang hat sie ihren Mann Steffen unterstütz­t, gepflegt – nur um ihn schließlic­h beerdigen zu müssen. Trotz größter Anstrengun­g, Zuversicht und Lebensmut hat Steffen Müller den Kampf gegen den Bauchspeic­heldrüsenk­rebs verloren. Für seine Frau ist eine Welt zusammenge­brochen. Greifbar und real macht den Schicksals­schlag erst das gelbbraune Holzkreuz inmitten der trügerisch­en Idylle. Darauf steht geschriebe­n: „Steffen Müller *1965 †2018“.

Rückblick: Im Sommer 2016 spürt der damals 50-jährige Steffen Müller den ersten Schmerz im Rücken, hat nach jeder Mahlzeit Hustenanfä­lle. Stets hat er gesund gelebt, nicht geraucht und kaum Alkohol getrunken. Weil die Schmerzen rasch stärker werden, sucht Müller einen Arzt auf, doch die Ursache kann nicht ausfindig gemacht werden. Auch bei zahlreiche­n weiteren Arztbesuch­en in den folgenden eineinhalb Jahren nicht. Kurzzeitig ist gar von Hypochondr­ie die Rede. Als dann jedoch im Dezember 2017 erstmals ein MRT gemacht wird, ist klar: Steffen Müller hat Bauchspeic­heldrüsenk­rebs. Der hat bereits gestreut und kann nicht operiert werden.

20 Kilo innerhalb weniger Wochen verloren

Da Müller ansonsten körperlich in einem sehr guten Zustand ist, beginnt er Anfang 2018 direkt mit einer sehr starken Chemothera­pie. Diese setzt ihm aber so zu, dass er sie nach zweieinhal­b Sitzungen abbrechen muss. Innerhalb weniger Wochen hat er 20 Kilogramm Gewicht verloren. Fortan setzt Müller auf alternativ­e Heilmethod­en. Da diese sehr kostspieli­g sind, organisier­en Freunde und Bekannte einen Spendenabe­nd. Neben Geld schenken ihm die Freunde viel mehr: Freude, Kraft und Zuversicht. Er darf, er kann, er will die Hoffnung nicht aufgeben.

Deswegen erklärt er sich Ende März auch mit einem Artikel in der „Schwäbisch­en Zeitung“einverstan­den. Während einige wenige diesen Schritt kritisiere­n, nehmen extrem viele Zeitungsle­ser Anteil am Schicksal der Familie. Zahlreiche Briefe und Anrufe gehen bei der „Schwäbisch­en Zeitung“ein. Die

„Ich habe das erst nicht realisiert, dass es jetzt zu Ende geht. Man befindet sich in einem anderen Kosmos.“Peggy Müller

Menschen unterstütz­en die Familie finanziell, versuchen sie auf neue Heilmethod­en oder Studien hinzuweise­n oder reden ihnen einfach gut zu. „Da haben so viele Menschen Anteil genommen. Das war überwältig­end. Das hat meinem Mann auch kurz neue Kraft gegeben“, erinnert sich Peggy Müller.

Doch die Kraft reicht nicht weit. Wenige Wochen später kommt Steffen Müller erst in die Notaufnahm­e des Krankenhau­ses St. Elisabeth in Ravensburg, später auf die Palliativs­tation. „Es ging dann rasend schnell“, sagt Peggy Müller. „Wir haben die Schmerzen einfach nicht mehr in den Griff bekommen.“Die ersten Tage sei ihr Mann noch voller Hoffnung gewesen, doch irgendwann wich der Optimismus dem Realismus. „Ich weiß, wann ich ein Spiel verloren habe“, sagt der leidenscha­ftliche Fußballer zu seiner Frau. Nicht nur für ihn, sondern auch für Peggy Müller einer der bittersten Momente. Bis dahin hatte das Ehepaar trotz der schlechten Prognose daran geglaubt, dass Steffen es schaffen könnte. „Ich habe das erst nicht realisiert, dass es jetzt zu Ende geht. Man befindet sich wie in einem anderen Kosmos“, sagt Peggy Müller. Doch von diesem Zeitpunkt an gab es nur noch eine Realität. „Jetzt müssen wir uns mit dem Gedanken des Verabschie­dens auseinande­rsetzen.“

Kirchliche Heirat – drei Tage vor dem Tod

Doch bevor sich Peggy und Steffen Müller voneinande­r verabschie­den, gehen sie noch einmal aufeinande­r zu. Am 26. April heiraten sie kirchlich. Bis dahin waren sie nur standesamt­lich getraut gewesen. „Wir hatten eigentlich vor, das im kommenden Jahr in einem anderen Rahmen zu machen“, sagt Peggy Müller. Doch das lässt die Krankheit nicht zu. Also organisier­en enge Freunde die Trauung in der Krankenhau­skapelle mit Luftballon­s und Blumensträ­ußen. In schwarzem Anzug und buntem Kleid schreiten die beiden, geführt von ihren zwei Söhnen, vor den Altar. „Das wollte er unbedingt erleben“, sagt Peggy Müller, für die der 26. April schön und schmerzhaf­t zugleich war. „Wenn man vor dem Altar steht und weiß, es bleiben nur noch Tage und Stunden, ist das auch sehr traurig.“

All die Kraft, die Steffen Müller für die Trauung noch einmal mobilisier­t hat, ist bereits am nächsten Tag gewichen. „Da hat er für sich entschiede­n, dass er nicht mehr kann“, erinnert sich Peggy. Gemeinsam mit ihren Söhnen und einigen Freunden begleitet sie ihren Ehemann die kommenden zwei Tage auf dem Weg in den Tod. Dann stirbt Steffen Müller im Alter von erst 52 Jahren.

Seine Frau fällt in ein tiefes Loch. „Ich wirke zwar stark, aber mir geht es sehr schlecht“, sagt sie. So einsam wie nie zuvor in ihrem Leben fühle sie sich, lebe nur von Tag zu Tag. Der Sommer stehe im totalen Gegensatz zu ihren Gefühlen. Der freie Sonntag, den sie sonst immer mit ihrem Mann verbracht habe, sei am schmerzhaf­testen. „Familie war für mich früher der Inbegriff des Glücklichs­eins. Damit kann ich jetzt gar nichts mehr anfangen“, sagt Peggy Müller. Ihr Beruf als Kosmetiker­in und die guten Freunde geben ihr Halt. Bei diesen Freunden, Verwandten und Helfern, aber auch bei den Krankensch­western auf der Palliativs­tation und nicht zuletzt allen Anteil nehmenden Zeitungsle­sern möchte sie sich ganz herzlich bedanken. In ihrem Namen und dem ihres Mannes.

Diese Nähe, Hilfsberei­tschaft und Wärme hätten ihn tief berührt und ihm sehr auf seinem Weg geholfen, hatte Steffen Müller in einem Telefonat einige Tage vor seinem Tod noch mitgeteilt. Es sei ihm ein großes Anliegen, all diesen Menschen noch einmal ausdrückli­ch seinen Dank auszusprec­hen.

Seiner Frau stehen schwere Wochen und Monate bevor. Sie hat den Tod ihres Mannes bis heute nicht realisiert, geschweige denn verarbeite­t. Noch immer fühle es sich wie ein Alptraum an, aus dem man endlich aufwachen wolle. Doch so weit ist Peggy Müller noch lange nicht. Das weiß sie selbst am besten. „Ich sage ungern, er hat. Ich sage, er ist. Ich spreche und schimpfe auch mit ihm. Er hat gesagt, dass er als Schutzenge­l da ist. Dann soll er nun auch seinen Job machen“, sagt sie und hält sich an der gemeinsame­n Heimat, dem gemieteten Haus in Weingarten, fest. „Ich möchte hier auf keinen Fall raus. Er ist hier immer dabei. Ich spüre, dass er bei uns ist.“Es ist noch nicht lange her, dass er neben ihr auf dieser Bank saß. Nun ist der Platz verwaist. Steffen Müller fehlt – und ist doch irgendwie allgegenwä­rtig.

„Wenn man vor dem Altar steht und weiß, es bleiben nur noch Tage und Stunden, ist das auch sehr traurig.“Peggy Müller

 ?? FOTO: OLIVER LINSENMAIE­R ?? „Das ist dann alles, was bleibt“, sagt Peggy Müller, als sie am Grab ihres Mannes Steffen steht.
FOTO: OLIVER LINSENMAIE­R „Das ist dann alles, was bleibt“, sagt Peggy Müller, als sie am Grab ihres Mannes Steffen steht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany