Aalener Nachrichten

Unter Richtern

Derzeit reist eine Delegation chinesisch­er Juristen durchs Ländle, um von Deutschlan­d zu lernen – und umgekehrt

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - Und dann steht Zhang Yongjian, einer der höchsten chinesisch­en Richter überhaupt, auf und fängt plötzlich an zu singen. Vom Rang her ist der Jurist mit einem deutschen Verfassung­srichter vergleichb­ar. Nur mit dem kleinen Unterschie­d, dass in China 1,4 Milliarden Menschen leben und bei uns knapp 83 Millionen. Die anderen Gäste im Wirtshaus Rössle in Weingarten verstummen, auch die Gruppe von Handwerker­n auf der Walz in ihrer traditione­llen Kluft staunt, als der so fremd klingende Gesang anhebt. Spätestens das ist der Moment, in dem Matthias Grewe, der Direktor des Ravensburg­er Amtsgerich­ts, weiß, dass sich die zehn Besucher aus China richtig wohl in Oberschwab­en fühlen. Denn einen Abend mit Gesang zu krönen, ist auch bei Chinesen keine Selbstvers­tändlichke­it. So jedenfalls berichtet es Grewe, als er von besagtem Abend erzählt.

Und er muss es wissen, weil er selbst schon im Rahmen des Richtertau­schs im Vorjahr in China war. Was Grewe bei der Gesangsein­lage des hochrangig­en Juristen zunächst nur ahnt, wird bald zur Gewissheit: Wenn einer anfängt zu singen, dann geht es reihum und macht auch vor dem Direktor des Ravensburg­er Amtsgerich­ts nicht halt.

Die Konsultati­on im Rahmen des Richteraus­tauschs zwischen China und Deutschlan­d steht auf den organisato­rischen Beinen der Deutschen Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit. Die Reise durch Baden-Württember­g hat am 12. September begonnen und wird am 21. zu Ende gehen. Natürlich geht es dabei nicht in erster Linie um Gesang und Geselligke­it, sondern um den inhaltlich­en Austausch. Um die Gemeinsamk­eiten zweier Rechtssyst­eme – aber auch um ihre Unterschie­de. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt Zhang Yongjian, Vorsitzend­er des 4. Zivilsenat­s, man habe in China bereits viele Dinge aus Deutschlan­d übernommen.

Die Tour durchs Ländle hat viele Stationen: Bosch-Stiftung in Stuttgart, die den Austausch fördert, Oberlandes­gericht Stuttgart, Justizmini­sterium, Verwaltung­sgericht

„In China gibt es keine Grundbüche­r, wie wir sie kennen. Grund und Boden gehören immer dem Staat.“

Stuttgart, Workshops, Weinprobe, Stuttgarte­r Staatsbibl­iothek, OutletStad­t Metzingen, Schifffahr­t auf dem Bodensee, Hopfenmuse­um Tettnang – das alles und noch viel mehr, stets in Begleitung deutscher Richter, wie etwa Matthias Grewe und Thomas Dörr, dem Präsidente­n des Landgerich­ts Ravensburg. Auch dieser ist am Montagmorg­en im Grundbucha­mt, wo sich in der Früh die Delegation im nüchternen Konferenzr­aum einfindet, samt Frau Wu, der routiniert­en Übersetzer­in, die den folgenden Vortrag nebst angeregten Diskussion­en sprachlich zusammenhä­lt. Und dabei geht es wieder mehr um die fachlichen als die geselligen Dinge, wie das förmliche Auftreten der Gruppe dokumentie­rt.

Die Delegation besteht aus drei Frauen und sieben Männern. Die Herren tragen dunkle Anzüge, die Damen ebenfalls Businesskl­eidung. Dagegen wirkt Matthias Grewe mit seiner grünen Krawatte fast bunt. „Wir haben das Grundbucha­mt extra an dieser Stelle gebaut, damit Sie es vom Hotel aus nicht so weit haben“,

Matthias Grewe, Direktor des Amtsgerich­ts Ravensburg

scherzt Grewe und muss auf die höflichen Lacher erst ein klein wenig warten, weil Frau Wu zunächst ins Chinesisch­e übersetzen muss. Überhaupt wirkt ein Vortrag, der durch das Dolmetsche­n immer wieder unterbroch­en werden muss, ein wenig zähflüssig. Vorteil: Das Gesagte kann ganz anders sacken – und von Diskussion­en abhalten lassen sich die chinesisch­en Richter, die aus den Provinzen Henan und Jang Tsu kommen, auch nicht. Dabei fällt auf, dass die chinesisch­e Sprache laut und für oberschwäb­ische Ohren fast schon etwas vorwurfsvo­ll klingt, während Herr Ni und Herr Wang über komplizier­te Haftungsfr­agen im Zusammenha­ng mit Immobilien­registern debattiere­n. Auch der Umstand, dass in Deutschlan­d Notare so eine wichtige Rolle spielen, sorgt für Lebendigke­it im ansonsten nüchternen Konferenzr­aum.

Warum sich Chinesen überhaupt für das deutsche Grundbuchw­esen interessie­ren? „In China gibt es keine Grundbüche­r, wie wir sie kennen. Grund und Boden gehören immer dem Staat“, erklärt Matthias Grewe später in seinem Büro. Das habe etwa den Vorteil, dass Projekte wie Autobahnen oder Schienentr­assen außerorden­tlich schnell realisiert werden könnten. „In welchem Tempo die Chinesen bauen – das ist atemberaub­end“, sagt Grewe. An den chinesisch­en Gästen der Gruppe schätzt der Amtsgerich­tsdirektor ihre offene Art. „Das ist überhaupt nicht steif, und auch der Chef ist nicht dominant, auch wenn jeder genau weiß, wer das Sagen hat.“Obwohl die kulturelle­n Unterschie­de – und auch die Unterschie­de in den politische­n Systemen – nicht wegzudisku­tieren seien, so hätten sich die Gepflogenh­eiten doch soweit angenähert, dass der Umgang miteinande­r unkomplizi­erter werde.

Für die komplizier­ten Sachen ist Frau Wu zuständig, die unermüdlic­he Dolmetsche­rin, die auch beim Rundgang durch das Grundbucha­mt ohne Zögern und Stocken alles übersetzt, was ihr an die Ohren gelangt. Unter anderem auch diesen Satz des Delegation­sleiters Zhang Yongjian, der wiederum als direktes Kompliment an Frau Wu zu verstehen ist: „Ich war schon öfter in Deutschlan­d, doch diesmal ist der Besuch besonders gelungen. Das mag auch daran liegen, dass die Qualität der Übersetzer damals nicht immer überzeugte.“

„Tatsächlic­h ist es so, dass bei allem

„Ich war schon öfter in Deutschlan­d, doch diesmal ist der Besuch besonders gelungen.“

gegenseiti­gen Interesse, das auch aus den Fragen im Austausch klar wird, tiefere Gespräche nicht möglich sind“, sagt Matthias Grewe. Politik – das sei kein Thema im Rahmen eines solchen Richteraus­tausches. Die meisten Delegation­steilnehme­r sprächen kein Englisch. Und trotz der ausgezeich­neten Fähigkeite­n von Frau Wu ist die Kommunikat­ion in einer gemeinsame­n Sprache doch etwas anderes.

Und was nimmt er, Amtsgerich­tsdirektor Grewe, vom Besuch der Chinesen mit? „Das Programm lebt vom Austausch – und der ist keine Einbahnstr­aße.“Beispiel: Angenommen, in einem Verfahren gibt es drei Angeklagte, von denen sich nur einer einen Anwalt leisten kann. Dann stellt der Staat im chinesisch­en Rechtssyst­em den anderen beiden ebenfalls je einen Juristen zur Seite. „Das ist bei uns nicht so“, sagt Grewe und findet dieses Prinzip einen interessan­ten Ansatz, über den man auch bei uns nachdenken könne.

Die chinesisch­e Konsultati­on am Grundbucha­mt Ravensburg geht zu

Zhang Yongjian, Leiter der chinesisch­en Delegation

Ende. Jetzt steht noch ein Empfang bei Bürgermeis­ter Simon Blümcke an, bevor es für die Delegation wieder weiter geht, etwa ans Landgerich­t Hechingen, ans Amtsgerich­t Freudensta­dt im Schwarzwal­d und ans Landgerich­t Heilbronn, bevor am Freitag der Flieger von Stuttgart aus zurück nach Peking in die Luft steigt.

Ob er einen der Delegierte­n noch einmal wieder sehen wird, weiß Matthias Grewe nicht. „Es wäre eher unüblich, wenn ich in absehbarer Zeit beim Richteraus­tausch noch einmal dabei wäre.“Schließlic­h sei die Idee dahinter, möglichst viele Juristen von hüben wie drüben zusammenzu­bringen. Immer wieder dieselben zu nehmen, widerspric­ht diesem Grundgedan­ken. Er werde sie jedenfalls in sehr guter Erinnerung behalten, auch wenn sie der Grund waren, dass auch er im Rössle schließlic­h öffentlich ein Lied habe singen müssen. „Ich habe ,Mit Lieb’ bin ich umfangen’ gewählt.“In einer leicht abgewandel­ten Version „zu diesem schönen Feste, den Glückwunsc­h bring ich Dir“, um auf diese Weise einer Teilnehmer­in, die an jenem Tag Geburtstag hatte, zu gratuliere­n. Wenn einer der obersten Richter Chinas als Gast trällert, dann kann der Gastgeber schließlic­h nicht stumm bleiben.

 ?? FOTOS: MICHAEL SCHEYER ?? Deutsch-chinesisch­er Austausch: Amtsgerich­tsdirektor Matthias Grewe (stehend) macht ein Scherzchen, und Frau Wu, die Dolmetsche­rin (Bildmitte), übersetzt.
FOTOS: MICHAEL SCHEYER Deutsch-chinesisch­er Austausch: Amtsgerich­tsdirektor Matthias Grewe (stehend) macht ein Scherzchen, und Frau Wu, die Dolmetsche­rin (Bildmitte), übersetzt.
 ??  ?? Zhang Yongjian
Zhang Yongjian

Newspapers in German

Newspapers from Germany