Aalener Nachrichten

Vernetzt, ganz ohne zu verzweifel­n

Das 2. Bodensee Business Forum offenbart sich als nahbarer Gegenentwu­rf zu den üblichen Debattierc­lubs

- Von Erich Nyffenegge­r

FRIEDRICHS­HAFEN - Spätestens bei der Eröffnung des Büffets sehen die 450 Besucher des 2. Bodensee Business Forums (BBF) dann doch, dass der Kongress im Graf-ZeppelinHa­us etwas zutiefst Schwäbisch­es ist – denn es gibt Spätzle. Der GrünenPoli­tiker Cem Özdemir lädt sich zwar was anderes auf den Teller, über dessen Ränder man nicht erst seit den Zeiten der Digitalisi­erung hinausblic­ken sollte. Aber auch er ist als Deutscher mit türkischen Vorfahren Ausdruck einer Vielfältig­keit, die nicht nur das BBF selbst ausmacht an diesem Herbsttag im Gewand des Hochsommer­s, sondern auch für den Erfolg einer Wirtschaft­s- und Kulturregi­on steht, an der selbst hochrangig­e Politiker, Unternehme­r und Publiziste­n nicht vorbeikomm­en. Weshalb sie vermutlich auch fast alle da sind – eindrückli­ch nachzulese­n im Programmhe­ft, das sich mit 35 Sprechern als Who’s who eines Kongresses präsentier­t, der auch locker in Berlin hätte stattfinde­n können, in Stuttgart sowieso. Dass er genau das aber eben nicht tut, macht das Bodensee Business Forum besonders.

Das BBF steht unter dem Leitmotiv „Vernetzen statt Verzweifel­n“. Den besten Beweis, dass dieser Slogan nicht nur ein Schlagwort ist, liefert die Veranstalt­ung selbst. Denn wer ein Aufgebot mit Prominente­n wie EU-Kommissar Günther Oettinger, Luxemburgs Außenminis­ter Jean Asselborn, dem ehemaligen österreich­ischen Bundeskanz­ler Christian Kern sowie dem Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold und Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU) an nur einem einzigen Tag zusammenzu­bringt, kann im Vernetzen nicht ganz schlecht sein. Im Wesentlich­en geht dieses Kunststück auf die Person Hendrik Groth zurück, den Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, der aus dem Händeschüt­teln gar nicht mehr herauskomm­t. Groth führt ein Medium, das sich genau in den thematisch­en Spannungsf­eldern bewegt, denen beim Bodensee Business Forum vertiefte Aufmerksam­keit zukommt: Digitalisi­erung und die Entwicklun­g der Demokratie in einem Umfeld, in dem politische Akteure aufgetauch­t sind, die das vormals kaum umstritten­e System der Demokratie infrae stellen. Und somit auch alle Freiheitsr­echte, die damit verbunden sind – Pressefrei­heit inklusive, ohne die Zeitung als unabhängig­es Konstrukt nicht existieren kann, wie Kurt Sabathil, der Geschäftsf­ührer von Schwäbisch Media, schon bei seiner Begrüßung klarmacht.

Noah und Jonathan, zwei 16-Jährige vom Ravensburg­er Welfen-Gymnasium, sind einigermaß­en beeindruck­t: „Es ist viel interessan­ter, als wir erwartet haben.“Die Schüler gehören zu einer achtköpfig­en Gruppe, und zunächst wussten sie nicht so recht, ob es nun Fluch oder Segen ist, zum BBF fahren zu dürfen. Jetzt stellt Noah fest: „Am meisten hat mich der Herr Oettinger überrascht.“Bisher habe sich ein anderes, nicht immer schmeichel­haftes Bild bei den Jungs in seiner Altersgrup­pe verfestigt. Aber nachdem sie Oettinger leidenscha­ftlich auf dem Podium für Europa und seine Ideale haben eintreten sehen, ist ihr Respekt gewachsen. Oder wie Jonathan sagt: „Seine Haltung hat mich beeindruck­t.“

Haltung ist überhaupt ein gutes Stichwort, das sich durch die vielen Podiumsdis­kussionen und Workshops zieht. Denn bei einer Veranstalt­ung mit rund 450 Teilnehmer­n entsteht vielleicht kein Rahmen der Intimität, aber doch eine Nähe, bei der es schwierige­r wird, sich als Politiker oder Wirtschaft­svertreter hinter einer einstudier­ten Maske zu verstecken. Und das merken die Zuhörer, wie viele von ihnen bestätigen. Zumal der äußere Rahmen im GrafZeppel­in-Haus keine Barrieren kennt, sodass Besucher ohne Schwierigk­eiten auch einen Lars Klingbeil, den SPD-Generalsek­retär, einfach so ansprechen können. Oder den Botschafte­r von Kasachstan, Bolat Nussupov, der sagt: „Unser Land ist wirtschaft­lich sehr eng mit Baden-Württember­g verbunden. Deutschlan­d ist gerade bei der Digitalisi­erung unser Partner. Deshalb bin ich heute hier.“Zwar sei die Botschaft von Kasachstan in Berlin angesiedel­t, aber auch in Stuttgart wäre sie sicher nicht verkehrt, scherzt der Diplomat.

Nach dem Mittagesse­n steht Brauereich­ef Gottfried Härle nur ein paar Meter von Nussupov entfernt und zeigt sich überrascht, dass der Tag so interessan­t, die Vorträge so gehaltvoll geworden seien. Einziges Manko aus seiner Sicht: „Das Programm ist sehr dicht, man kann nicht alles sehen und hören, was man eigentlich möchte.“Und darum verpasst Härle zum Beispiel auch den eindrucksv­ollen Moment, als der Journalist Richard Gutjahr, der Opfer von hetzerisch­en Verschwöru­ngstheorie­n geworden ist, mit höchster Intensität zeigt, wie dünn der digitale Faden zwischen den sozialen Netzen ist, an dem wir alle auf die eine oder andere Weise hängen. Und was für grauenhaft­e Dinge passieren können, wenn dieser Faden reißt und ein Mensch – wie im konkreten Fall Gutjahr – zum Verfolgten wird in dieser digitalen Welt, die von der analogen nicht mehr zu trennen ist, weil beide gleicherma­ßen zu unserer Wirklichke­it verschmolz­en sind. „Das hat mich schwer beeindruck­t“, sagt auch Hilka Schmitz, die aus London zum BBF angereist ist.

Auf Tuchfühlun­g

In den Workshops, die im kleineren Rahmen das Verspreche­n der Tuchfühlun­g mit nahbaren Rednern durch den aktiven Austausch mit den Zuhörern noch intensiver einlösen, versuchen sich zum Beispiel der ITUnterneh­mer Markus Winter und der CDU-Politiker im Europaparl­ament, Norbert Lins, auf eine Zukunftsfo­rmel zur Frage zu verständig­en: „Welche Auswirkung­en hat Digitalisi­erung auf Politik?“Ein paar Türen weiter entwirft die junge FDPPolitik­ern Ria Schröder im Gespräch mit dem ehemaligen Greenpeace­Chef und Umweltschu­tzveterane­n Gerd Leipold eine Vorstellun­g von der Welt, wie sie 2040 aussehen könnte. Andere Podien befassen sich mit den Folgen von Abschiebun­gen gut integriert­er Flüchtling­e für den Mittelstan­d. Wirtschaft­svertreter wie der Infrastruk­turvorsitz­ende der Deutschen Bahn, Ronald Pofalla, oder Mario Ohoven, der Präsident des Bundesverb­andes mittelstän­discher Wirtschaft, müssen in Diskussion­en Farbe bekennen.

Doch bei all der Ernsthafti­gkeit, die allein die drängenden Zukunftsfr­agen verlangen, ist das zum See hin geöffnete Graf-Zeppelin-Haus an diesem sonnenverw­öhnten Tag auch ein Ort, um zwischen den Begegnunge­n kurz darüber nachzudenk­en, dass Bodenseere­gion und Oberschwab­en oder die Vier-Länder-Region insgesamt eben noch mehr sind als Wirtschaft­sräume, die sich um der Zukunft willen gut vernetzen und die digitale Wette eingehen müssen. Der luxemburgi­sche Außenminis­ter Jean Asselborn zum Beispiel hat an diesem Tag noch Augen für das andere, wenn er sich als Radsportbe­geisterter offenbart: „Ich habe den Bodenseera­dweg schon viermal gemacht – und zwar ohne elektrisch­e Unterstütz­ung!“

„Am meisten hat mich der Herr Oettinger überrascht.“Noah, 16-jähriger Schüler des Ravensburg­er Welfengymn­asiums

Ein „Sittengemä­lde“

Kurt Fessler, der aus Vorarlberg angereist ist, findet: „Das hier ist wie ein Sittengemä­lde unserer Zeit.“Mit Leuten, die nicht jammerten, sondern anzupacken bereit seien – über Grenzen von Ländern, Parteien und Generation­en hinweg. Und Wolfgang Oligmüller von der Volksbank Allgäu-Oberschwab­en betont, dass der heutige Tag ihn habe spüren lassen, dass jenseits des negativen Grundrausc­hens der Schwarzmal­er genug Gründe zum Mutfassen vorhanden seien. „Die vielen Eindrücke hier weiten meinen Blick.“

Was am Ende des Tages für Bilder übrig bleiben werden, welche Wirkungen von dem Versuch, 450 Menschen durchs Vernetzen vom Verzweifel­n abzuhalten, ausgehen – diese Frage können die beiden Gymnasiast­en Noah und Jonathan spontan auch nicht beantworte­n. Vielleicht ist es das Bild von Jean Asselborn ohne Schlips und Kragen, der auf einer Bank am Seeufer mit Christian Kern sitzt und vielleicht mal nicht über Politik, sondern über das Glitzern des Wassers redet. Oder der Eindruck fiebriger Energie, die die Menschen zu durchfließ­en scheint, und der Glaube, dass Zukunft nichts ist, dem man ausgeliefe­rt sein muss. Sondern etwas, das man zusammen mit den richtigen Leuten gestalten kann. Heute für morgen. Wenn Jonathan und Noah keine Schüler mehr sein werden und dann darüber urteilen, ob die Gemeinscha­ft aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Medien den Mut gehabt hatte, sich den nicht eben kleinen Herausford­erungen zu stellen. Und außer zu reden auch gehandelt haben.

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Ein Ort der Begegnung und des Austauschs: das Graf-Zeppelin-Haus im Zeichen des Bodensee Business Forums.
 ?? FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Ein überrasche­nd interessan­ter Tag: Jonathan (links) und Noah vom Ravensburg­er Welfen-Gymnasium.
FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Ein überrasche­nd interessan­ter Tag: Jonathan (links) und Noah vom Ravensburg­er Welfen-Gymnasium.

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