Aalener Nachrichten

Kirchen ließen Verbrechen geschehen

Ulrich Marstaller: Reichspogr­omnacht war das Signal zum Völkermord

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OBERKOCHEN - In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 haben im Deutschen Reich über 1400 Synagogen gebrannt. Es sind sonstige jüdische Versammlun­gsräume, Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe zerstört und geschändet worden. Auf Initiative des evangelisc­hen Pfarrers von Oberkochen, Ulrich Marstaller, ist am Freitag, 9. November, um 19 Uhr in der Versöhnung­skirche eine Stunde der Erinnerung an die Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren. „Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit“, schreibt der Pfarrer in seiner Einladung. Edwin Hügler hat mit ihm über die Naziherrsc­haft gesprochen.

Herr Pfarrer Marstaller, Ihre Großmutter Margarethe Marstaller war Jüdin und hat zusammen mit ihrer Familie damals in einem kleinen Dorf am Rande des Schwarzwal­des gelebt. Wie hatte die Familie unter den Anfeindung­en der Nationalso­zialisten zu leiden?

Meine Großmutter wollte schon in jungen Jahren zur evangelisc­hen Kirche gehören und ließ sich deshalb im Jahre 1917 auch taufen. Durch die Einführung der Nürnberger Rassengese­tze wurde ihre jüdische Abstammung festgestel­lt. Dadurch mussten sie und ihre Familie mit großen Einschränk­ungen und Anfeindung­en leben. Mein Großvater musste seine Arbeit als Schulleite­r aufgeben und meine Großmutter erlitt eine ganzseitig­e Körperlähm­ung bei der Nachricht, dass ihre jüdische Freundin von der Gestapo abgeholt wurde. Sie hat ihre Freundin, die Lindenwirt­in, nie wieder gesehen. Von meiner Großmutter gibt es das Zitat: „Ich habe mich jederzeit als Deutsche gefühlt, und habe auch bewiesen, dass ich jederzeit bereit war, dem deutschen Volk zu dienen.“

Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirchen in der Zeit des Nationalso­zialismus?

Die Kirchen in ihrer breiten Mehrheit ließen diese Verbrechen an den Juden in mutlosem Schweigen geschehen. Zu tief waren im christlich­en Abendland die Ablehnung und Ausgrenzun­g der Juden. Aufgrund dieses kollektive­n Versagens gab es nur in wenigen Ausnahmen ein solidarisc­hes Eintreten für die Verfolgten, wie zum Beispiel der Kreis der „Bekennende­n Kirche“von Dietrich Bonhoeffer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs in den Kirchen zunächst nur zögernd, dann aber immer deutlicher, die Erkenntnis der Mitschuld am Geschick der Brüder und Schwestern Jesu.

Befürchten Sie, dass es in Deutschlan­d heute zu einer Wiederholu­ng der Geschichte und zu einer erneuten Judenverfo­lgung kommen könnte?

Eine Wiederholu­ng der Geschichte befürchte ich in diesem Ausmaß sicher nicht, aber Fremdenhas­s und antisemiti­sche Tendenzen und Äußerungen sind leider in den letzten Monaten wieder verstärkt zu beobachten. Dieses bereitet mir wirklich große Sorgen und alle demokratis­chen Kräfte in unserem Land sind aufgeforde­rt, den Anfängen von Gewalt und Fremdenhas­s entschiede­n entgegen zu treten.

Was möchten Sie mit der Gedenkstun­de am 9. November in Oberkochen erreichen?

Der Mensch steht immer in der Gefahr, schnell zu vergessen. So sehe ich es als meine Aufgabe, zum einen an die Judenverfo­lgung zu erinnern und zum anderen den bleibenden Bezug der christlich­en Kirchen zu Israel und dem Judentum, als fundamenta­le Äußerung der Kirchen, wach zu halten. Einer Geschichts­vergessenh­eit zu wehren und ein lebendiges Gedenken zu fördern, ist ein bleibendes gemeinsame­s Anliegen.

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EDWIN HÜGLER FOTO: Auf Initiative von Pfarrer Ulrich Marstaller findet am Freitag in der Versöhnung­skirche eine Stunde der Erinnerung an die Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren statt.

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