Brexit-Deal stürzt May in die Krise
Vier Rücktritte bringen die britische Regierung ins Wanken
LONDON - Eine ganze Stunde ist im Londoner Unterhaus bereits vergangen. Theresa May hat den vorläufigen EU-Austrittsvertrag verteidigt und die Kritik des Oppositionsführers Jeremy Corbyn pariert. Immer neue Fragen prasseln auf sie ein, harsche Kritik und kaum verhüllte Rücktrittsforderungen kommen nicht zuletzt aus den eigenen Reihen – und kein Mensch eilt der Premierministerin zu Hilfe.
Da steht der erfahrene Hinterbänkler Peter Bottomley von seinem Platz auf. Er gehört dem Parlament seit 1975 an, sein Wort hat Gewicht. „Die Mehrheit des Landes steht hinter ihr“, sagt der 74-Jährige, schließlich gehe es um den Wohlstand des Landes. Und Bottomley spricht von den Folgen, sollte das Unterhaus Mays Vereinbarung mit Brüssel durchfallen lassen. Dann werde „ein Chaos-Brexit wahrscheinlich und eine Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn möglich“.
Doch Bottomley bleibt mit seinem Appell an die Vernunft ein einsamer Rufer in der Brexit-Wüste. Am Ende werden in der dreistündigen Sitzung nicht einmal zehn Wortmeldungen den Plan der Regierung unterstützen. Ist die Vereinbarung „bereits tot“, wie die Opposition vermutet? Muss gar die Premierministerin um ihren Job bangen?
Wie sehr der Deal mit Europa ihre eigene Partei vor eine Zerreißprobe stellt, hat May schon am Mittwoch erlebt. Fünf Stunden lang tagt das Kabinett, ehe die Regierungschefin um 19.20 Uhr endlich auf die Downing Street vor ihrem Amtssitz tritt und eine kurze Erklärung abgibt. „Dies ist der bestmögliche Deal für unser Land. Er ist im nationalen Interesse“, sagt sie und spricht von einer „detaillierten und leidenschaftlichen Debatte“. An deren Ende habe das Kabinett dem Deal zugestimmt. Ausdrücklich vermeidet May es aber, von Einstimmigkeit zu sprechen.
Über Nacht wird deutlich warum. Von 25 stimmberechtigten Mitgliedern hätten zehn Bedenken oder gar Protest angemeldet, melden die Londoner Medien. Und kurz vor neun Uhr wird bekannt: Dominic Raab hat seinen Hut genommen. Ausgerechnet der Brexit-Minister, erst seit fünf Monaten im Amt, wirft den Bettel hin. Der 44-Jährige folgt damit anderen Brexiteers wie Ex-Außenminister Boris Johnson und seinem Amtsvorgänger David Davis, die im Juli zurückgetreten waren. Kurz darauf folgt die Sozialministerin Esther McVey sowie zwei Staatssekretäre. Allesamt werfen sie der Premierministerin die Politik vor die Füße, die sie dem Land mit ihrer EU-Feindschaft eingebrockt haben.
In seiner Rücktrittserklärung macht Raab deutlich, wie wenig er an der Kompromissfindung beteiligt war. Tatsächlich dürfte die Vereinbarung mit Brüssel vor allem das Werk von Mays Brexit-Sherpa Oliver Robbins im Kabinettsbüro sein.
Im Unterhaus verteidigt May äußerlich ungerührt den 585 Seiten starken Vertragsentwurf und sagt später in einer Pressekonferenz: „Ich glaube mit jeder Faser meines Seins, dass der Kurs, den ich vorgegeben habe, der richtige für unser Land und unser ganzes Volk ist.“Immer wieder spricht sie von einem notwendigen Kompromiss. Für viele ihrer Parteifreunde sowie der erzkonservativen Unionistenpartei DUP gilt dies besonders in Bezug auf die Sonderlösung für Nordirland. An dieser Stelle redet May erstmals Tacheles: „Ein Deal mit der EU ist ohne eine Auffanglösung für Nordirland nicht zu bekommen.“
Sie bestätigt damit indirekt, dass sich die von Dublin geforderte Härte der EU-Verhandler gelohnt hat. Wütender Einspruch der protestantischen Hardliner der DUP ist die Folge. Er traue May nicht mehr, wütet DUP-Fraktionschef Nigel Dodds und gratuliert den zurückgetretenen Regierungsmitgliedern. Noch schärfer äußert sich der Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg, dessen Finanzfirma kürzlich aus Angst vor dem ChaosBrexit die Geschäfte nach Dublin verlagert hat. May rede von der Integrität des Königreiches. „Aber sie handelt nicht nach ihren Worten.“
Rees-Mogg und seine Gesinnungsfreunde wollen es nun aufs Äußerste ankommen lassen: Mittels schriftlichen Misstrauenserklärungen wollen sie eine Abstimmung über die Parteivorsitzende erreichen. Sollte es wirklich dazu kommen, braucht May nominell nur 50 Prozent plus eine Stimme der Fraktion hinter sich zu bringen. Die Wahrheit sieht anders aus: Verliert die Chefin das Vertrauen von mehr als einem Drittel der 315 Tory-Abgeordneten, dürften ihre Tage gezählt sein. Kenneth Clarke, der sogar seit 1970 dem Unterhaus angehört, glaubt das aber nicht: „Die Brexiteers haben doch keine Ahnung, wie sie es besser machen würden. Theresa ist dazu verdammt, uns weiter zu führen.“