Aalener Nachrichten

Es ist eine Liste des Grauens

Ex-Pfleger Niels Högel bereut vor Gericht seine Taten – Er soll 100 Patienten ermordet haben

- Von Irena Güttel

OLDENBURG (dpa) - Niels Högel versucht angestreng­t sich zu erinnern. Lange blickt er auf das Foto vor sich. Dann atmet er hörbar aus und schüttelt den Kopf. 100 Patienten soll der frühere Krankenpfl­eger ermordet haben. Die Gesichter seiner Opfer wecken bei ihm keine Erinnerung­en, wie er sagt, gehen ihm aber sichtbar nahe. Am dritten Prozesstag wendet er sich direkt an deren Familien. „Es tut mir wirklich leid“, sagt er am Donnerstag vor dem Landgerich­t Oldenburg. „Wenn es einen Weg geben würde, der Ihnen helfen würde, dann würde ich ihn gehen, glauben Sie mir.“

Rund 120 Nebenkläge­r wollen in dem Prozess um die wohl größte Mordserie in der deutschen Nachkriegs­geschichte erfahren, wieso ihre Verwandten sterben mussten. Nach Ansicht der Ermittler spritzte Högel seinen Opfern an den Kliniken Oldenburg und Delmenhors­t verschiede­ne Medikament­e in tödlicher Dosis, um sie anschließe­nd wiederbele­ben zu können. Er habe dies getan, um seine Kollegen mit Reanimatio­nskünsten zu beeindruck­en und Anerkennun­g zu bekommen, begründete der Angeklagte vor Gericht seine Taten. Wegen des Todes von sechs Patienten auf der Delmenhors­ter Intensivst­ation sitzt er bereits lebenslang in Haft.

Beim Prozessauf­takt vor drei Wochen hatte Högel die Vorwürfe aus den Jahren 2000 bis 2005 als größtentei­ls zutreffend bezeichnet. Am Donnerstag äußerte er sich wie am Verhandlun­gstag davor ausführlic­h zu einzelnen Taten in Oldenburg und Delmenhors­t. Vor Gericht gestand er in vielen Fällen seine Taten. Bei vielen könne er sich nicht erinnern, schließe diese aber auch nicht aus, sagte er. Bei zwei Patienten bestritt er, für deren Tod verantwort­lich zu sein.

In seiner Aussage geht es vor allem um nüchterne Fakten: Patientenn­ame, Todestag, verwendete Substanz, Krankheits­verläufe. Erst als eine Nebenklage-Anwältin Högel nacheinand­er zwei Fotos seiner mutmaßlich­en Opfer vorlegte, zeigte er Gefühle. „Ich kann nichts gutmachen. Ich entschuldi­ge mich in aller Form persönlich bei Ihnen“, sagte er zu den Angehörige­n. Angesichts der Fotos empfinde er Traurigkei­t und Schuld – auch wenn er sich an die Gesichter der Patienten nicht erinnern könne. „Ich habe irgendwann angefangen auf dieser Station zu entpersoni­fizieren. Ich habe mehr auf Monitore geachtet als auf die Menschen.“

Wenn es dem Pfleger damals nicht gelang, Patienten nach von ihm verursacht­en Krisen wieder zurück ins Leben zu holen, war er nach eigenen Angaben nicht betroffen. Er sei vielmehr überrascht gewesen, sagte er. „Ich habe gedacht, ich kann es auslösen und auch wieder beherrsche­n.“Den Tod der Patienten habe er aus heutiger Sicht billigend in Kauf genommen, damals aber keine Schuld gefühlt.

Im Prozess sollen später auch Mitarbeite­r der beiden Kliniken als Zeugen aussagen. An beiden Kliniken gab es nach Ansicht der Ermittler Hinweise auf Högels Taten, ohne dass Verantwort­liche einschritt­en. Vier frühere Kollegen am Klinikum Delmenhors­t werden sich deshalb wegen Totschlags durch Unterlasse­n vor Gericht verantwort­en müssen. Die Ermittlung­en gegen fünf ehemalige Klinikmita­rbeiter aus Oldenburg laufen noch.

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FOTO: AFP „Es tut mir wirklich leid“, sagte Niels Högel vor Gericht.

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