Aalener Nachrichten

Loblied auf die Provinz

Berlin-Schelte ist derzeit schwer in Mode – Auch Tübingens OB Boris Palmer macht mit

- Von Stefan Kruse

BERLIN/TÜBINGEN (dpa) - Tübingen funktionie­rt. Seit Dienstag lockt in den Altstadtgä­sschen der schwäbisch­en Perle ein Schokolade­nfestival mit süßen Sünden. Beim „Schreibtre­ff“in der Stadtbüche­rei können sich Interessie­rte eigene Geschichte­n vorlesen. Die Stadt ist beliebt bei Studenten, gilt als Vorreiter beim Klimaschut­z, samstags fahren Busse kostenlos. Da kann Berlin nicht mithalten, meint Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne). „Wenn ich dort ankomme, denke ich immer: ,Vorsicht, Sie verlassen den funktionie­renden Teil Deutschlan­ds’“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe.

In der Hauptstadt klappe einfach gar nichts, will Palmer festgestel­lt haben. „Ich komme mit dieser Mischung aus Kriminalit­ät, Drogenhand­el und bitterer Armut auf der Straße als spießbürge­rliche baden-württember­gische Grünen-Pflanze schlicht nicht klar. Ich will diese Verhältnis­se in Tübingen nicht.“

Mit „diesen Verhältnis­sen“schlagen sich in Berlin immerhin 3,7 Millionen Bewohner herum. Jährlich kommen 40 000 hinzu, was der halben Stadt Tübingen entspricht. Dabei darf als gesichert gelten, dass die allermeist­en freiwillig in die Hauptstadt kommen, auch aus dem Schwäbisch­en. Die einzigarti­ge Kulturland­schaft, die Clubszene, die Möglichkei­t zur persönlich­en Entfaltung, gute Jobs oder einfach ein besonderes Lebensgefü­hl gehören zu ihren Argumenten.

Allerlei Merkwürdig­keiten

Gleichzeit­ig ist das „Berlin-Bashing“, bei dem Palmer mitmacht, in Mode. Vielleicht auch ein bisschen zu Recht? Vielerorts in Deutschlan­d schauen Menschen mit einer Mischung aus Bewunderun­g und Kopfschütt­eln nach Berlin – auf die Stadt also, die sie mit ihrem Steuergeld über den Länderfina­nzausgleic­h oder Bundesmitt­el mitfinanzi­eren. Denn aus der rot-rot-grün regierten Metropole hören sie allerlei Merkwürdig­keiten, die auch viele Berliner schwer nerven.

Einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen, um einen neuen Ausweis zu beantragen, kann Wochen dauern. Das gilt auch für die Bestellung des Aufgebots beim Standesamt oder für Sterbeurku­nden. Bezahlbare Wohnungen sind knapp, Kita-Plätze oder Lehrer auch. Weil jahrzehnte­lang gespart wurde, sind Schulen marode. Clans treiben in manchen Stadtteile­n ihr kriminelle­s Unwesen, in Kreuzberg verticken Drogenhänd­ler weitgehend unbehellig­t ihre Ware. Obdachlose und Bettler gehören vielfach zum Straßenbil­d. In Neukölln werden alte Sofas oder Matratzen einfach auf dem Bürgerstei­g entsorgt.

Die von Rot-Rot-Grün deklariert­e „ökologisch­e Verkehrswe­nde“hatten sich viele auch anders vorgestell­t. Weil Wagen und Fahrer fehlen, schaffen es die Verkehrsbe­triebe auf vielen U-Bahn-Linien nicht mehr, einen berechenba­ren, zuverlässi­gen Betrieb zu organisier­en. Berufspend­ler wie Touristen quetschen sich in überfüllte Züge, die häufig auch noch weniger Waggons haben als üblich.

Die „FAZ“befand vor einiger Zeit, die Politik in Berlin werde der Missstände nicht Herr. Dort herrsche „organisier­te Unzuständi­gkeit“. „Spiegel Online“-Kolumnist Jan Fleischhau­er versteifte sich gar auf die These, Berlin sei das „Venezuela Deutschlan­ds“. Ein Korrespond­ent der „Neuen Zürcher Zeitung“verglich die Stadt am Wochenende mit einem Entwicklun­gsland „in Afrika“.

Viele Probleme erkannt

Nun zu behaupten, Berlin funktionie­re gar nicht, wäre aber unfair. Irgendwie ruckelt sich in der Hauptstadt immer alles zurecht. Mal abgesehen vielleicht vom immer noch nicht fertigen Pannenflug­hafen BER als Dauerärger­nis. Der Senat hat viele Probleme erkannt und vom milliarden­schweren Schulsanie­rungsprogr­amm über ein Mobilitäts­gesetz, einer Aufstockun­g des Personals in Verwaltung und Polizei bis hin zum Wohnungsba­u manches angestoßen. 2019, 2020 oder 2021 soll vieles besser werden, heißt es aus dem Roten Rathaus. Und überhaupt die Schwaben. Auf die sind manche in Berlin ohnehin nicht gut zu sprechen. Im Prenzlauer Berg stammt gefühlt jedes zweite Helikopter-Elternpaar aus dem Südwesten. Was zu Problemen führt. Auf eines wies der SPD-Politiker Wolfgang Thierse schon 2012 hin, als er sich darüber beklagte, dass sein Bäcker um die Ecke Wecken anbietet statt Schrippen, wie die Brötchen in Berlin eigentlich heißen. „Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche“, sagte er.

In den aktuellen „Schwaben-Fall“schaltete sich auch Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) ein. In der „Fast-4-MillionenS­tadt“Berlin gebe es besondere Probleme, Anforderun­gen und Dynamiken. „Die sind nun in der dörflichen Struktur, in der Herr Palmer arbeitet, so nicht zu finden.“Palmer, der gerne provoziert, ließ sich dadurch aber nicht beeindruck­en und legte nach: „Berlin ist ein failing state“, twitterte er. „Wer da leben will, soll es tun. Ich will es nicht und stehe dazu.“

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FOTOS: DPA „Schwabenec­ke“in einer Bäckerei im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Viele Schwaben zieht es in die Hauptstadt, was sich von Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer nicht sagen lässt.
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