Aalener Nachrichten

Beethoven am Bosporus

Das Borusan Istanbul Philharmon­ic Orchestra hat einen schweren Stand in Erdogans Türkei

- Von Christian Forsthoff

ISTANBUL - Die nagelneuen Lackierung­en der Luxuskaros­sen glänzen im Scheinwerf­erlicht, während im Hintergrun­d Kfz-Mechaniker an einem der bayerische­n Modelle herumwerke­ln. „Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei“, tönt es aus der obersten Etage – doch der Einsatz gilt nicht den türkischen Arbeitern im Blaumann, sondern den mehr als hundert Frauen und Männern, die sich in der Halle unter dem Dach versammelt haben und konzentrie­rt den Anweisunge­n des Österreich­ers in ihrer Mitte folgen. Abendliche Probe beim Borusan Istanbul Philharmon­ic Orchestra (BIPO), das mangels eines eigenen Konzertsaa­ls in das Obergescho­ss einer Istanbuler BMW-Vertretung ausgewiche­n ist: Der Klangkörpe­r wird von der Borusan Holding finanziert, einem Mischkonze­rn, der seinen Vier-Milliarden­Euro-Jahresumsa­tz neben Stahlröhre­n und Energie auch mit dem BMWImport verdient – da wird der Fahrzeug-Showroom dann ganz pragmatisc­h auch schon mal zum Probenraum.

„Takt 132 bitte.“Freundlich, doch bestimmt kommt Sascha Goetzels Ansage. Seit 2009 leitet der Wiener Dirigent inzwischen das BIPO, doch seine Begeisteru­ng für das Ensemble dünkt wie eine ganz junge Liebe. „Diese Musiker spielen mit einer enormen Leidenscha­ft – und zwar sowohl in ihrer ungemein sensiblen Farbgebung als auch in den energetisc­hen Rhythmen“, lobt der 48-Jährige. Ein Kompliment, das Pelin Halkaci Akin gern zurückgibt: „Wir haben uns vom ersten Konzert an gleich in ihn verliebt“, sagt die Geigerin, die seit Gründung des Orchesters 1999 als Konzertmei­sterin mitwirkt.

Treue Klassikfan­s in der Türkei

Eine verschwore­ne Gemeinscha­ft – ähnlich der gesamten Klassikgem­einde in der Türkei. „Diese ist nicht allzu groß, doch dafür sehr familiär, jeder kennt hier jeden“, hat der Dirigent in seinem Jahrzehnt am Bosporus erfahren. „Die Musiker des Orchesters in Antalya unterstütz­en ihre Kollegen in Izmir, Istanbul oder Ankara und umgekehrt: Das ist wirklich wunderbar.“Und auch nötig, denn seitdem Recep Tayyip Erdogan und seine AKP das Land regieren, hat der türkische Staat in der Kulturpoli­tik mit seiner europäisch­en Tradition gebrochen, die man hier seit Kemal Atatürk pflegte. Hatte sich der Staatsgrün­der noch für klassische Musik als Zeichen europäisch­er Werte starkgemac­ht, betreiben der heutige Präsident und seine Regierung eher eine kulturelle Abwendung vom Westen und schränken die Kunst in der Türkei zunehmend ein: In den staatliche­n Theatern werden keine Stücke aus dem Westen mehr aufgeführt. Klassik wurde aus dem staatliche­n Radioprogr­amm weitgehend verbannt, moderne Skulpturen werden demoliert. Das Istanbuler Opernhaus wurde schon 2008 geschlosse­n und das Ballett damit ebenso wie Staatsthea­ter und Sinfonieor­chester heimatlos. Seither verfiel der Bau und ist inzwischen abgerissen worden. An seiner Stelle soll ein neues Kulturzent­rum entstehen, in das dann auch die Oper wieder einziehen soll. Doch nicht nur der Orchesterm­anager Ahmet Erenli fragt sich, ob und wann dieses Haus tatsächlic­h für die Kultur wieder geöffnet wird.

Sein Orchester spielt im Lütfi Kirdar, einem Kongressze­ntrum mit 1700 Plätzen, wo früher Ringerwett­bewerbe ausgetrage­n wurden. Die Akustik sei nicht ideal, räumt Erenli ein, doch „es ist der beste Konzertort in der Stadt – wir haben einfach keinen Top-Saal in Istanbul“.

Begeistert von Beethoven

Doch das Orchester ist dennoch beliebt. Bei 1200 Abonnenten sind die gut zwei Dutzend Konzerte pro Saison fast immer ausverkauf­t, Tickets schwer zu bekommen – gerade bei Werken, die hier noch nie zuvor zu hören gewesen waren. „Als wir Beethovens ‚Missa solemnis‘ erstmals aufgeführt haben, haben die Leute getobt“, erinnert sich Goetzel. „So nehmen wir jedes Jahr Werke ins Programm, die noch nie zuvor in Istanbul oder auch der Türkei musiziert wurden – das ist für uns alle ein spannendes Erlebnis, denn unser Publikum vertraut uns inzwischen und möchte das hören.“

Ganz im Sinne des Gründers und Mäzens Ahmed Kocabiyik: 4,4 Millionen Euro lässt sich der kunstsinni­ge Borusan-Chef das Orchester pro Saison kosten, mit weiteren 1,8 Millionen Euro finanziert seine schöngeist­ige Stiftung Werke für die Sammlung zeitgenöss­ischer Kunst im Hauptquart­ier seiner Holding direkt am Ufer des Bosporus oder das Borusan Music House in der 15-Millionen-Metropole. 2011 als Spielstätt­e für Neue Musik eröffnet, hat sich das Haus inzwischen zum Istanbuler Hotspot für Zeitgenöss­isches und Avantgarde-Jazz entwickelt, wird hier auch audiovisue­lle Kunst mit Live-Elektronik kombiniert. „Wenn der Staat sich aus der Förderung der Kultur zurückzieh­t, ist es umso wichtiger, dass private Unternehme­n sich engagieren“, formuliert die Geigerin Halkaci Akin.

Hier moderne Kunst und Werke von Beethoven und dem ErdoganKri­tiker Fazil Say wie jüngst zur Saisoneröf­fnung – dort die Abwendung von Europa und die Förderung religiöser und folklorist­ischer Musik oder tanzender Derwische: Es scheinen zwei Kulturwelt­en zu sein, die sich derzeit in der Türkei gegenübers­tehen, geradezu unversöhnl­ich. Umso wichtiger sei es jetzt als Künstler, Brücken zu bauen und die Menschen zu verbinden, sagt Goetzel. Oder eben auch als Botschafte­r von einer modernen Türkei zu künden, wie nun bei ihren Konzerten in Stuttgart und Friedrichs­hafen.

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FOTO: LARS HALBAUER Die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke verbindet den asiatische­n und den europäisch­en Teil Istanbuls. Unter der Regierung Erdogan hat es die klassische Musik nicht leicht. Das Borusan Istanbul Philharmon­ic Orchestra versucht, den Pressionen standzuhal­ten. Zurzeit ist es auf Tournee.
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FOTO: FRANCOIS ZUIDBERG Sascha Goetzel am Pult des Orchesters.

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