Zwischen Hörsaal und Kinderzimmer
In Deutschland studieren 132 000 Studenten mit Kind – Zwei alleinerziehende Mütter aus Weingarten gehen mit gutem Beispiel voran
WEINGARTEN - Konzentriert sitzt der zweijährige Thiago vor einem kleinen Papierstapel und malt vor sich hin. Einzig die etwas zu hohe Tischreihe vor den Klappstühlen deutet darauf hin, dass hier etwas nicht ganz alltäglich ist. Neben ihm sitzt seine Mutter Christina Morgenroth, sie ist nicht minder fokussiert. Doch ihr Blick richtet sich nicht auf ihre Aufschriebe vor sich, sondern auf einen Mann Ende 50, der in dem riesigen, voll besetzten Hörsaal etwas von Persönlichkeitsentwicklung erzählt. Denn die 28-jährige Morgenroth ist nicht nur alleinerziehende Mutter, sie studiert auch im dritten Semester an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (PH). Englisch und Wirtschaft sind ihre Fächer.
Lehramt für die Real- und Hauptschule soll es sein. Schließlich ist der Lehrerberuf mit den vielen Ferien sehr familienfreundlich. Und genau darum geht es Morgenroth. Familie und Beruf, nun aber erst einmal Familie und Studium, unter einen Hut zu bekommen. „Das Berufsziel würde gut zu unserem Leben passen“, sagt sie. „Ich hatte zwei Möglichkeiten. Hartz IV bis mein Sohn drei Jahre alt ist und dann Altersarmut. Das war keine Option. Also habe ich ein Studium aufgenommen.“
Und damit ist sie nicht alleine. Laut dem Deutschen Studentenwerk haben sechs Prozent der Studenten in Deutschland ein oder mehrere Kinder. Bei etwas mehr als 2,2 Millionen erfassten Studenten in Deutschland macht das etwa 132 000 Studenten mit Kind, wovon wiederum jeder zehnte alleinerziehend ist. Demnach gibt es neben Morgenroth rund 13 200 alleinerziehende Studenten. Vier von fünf sind Frauen.
Konstante Zahlen
Die absolute Zahl der alleinerziehenden Studenten in Deutschland ist in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Allerdings sind die Studentenzahlen allgemein gestiegen, so dass ein Trend nicht erkennbar ist. Die Zahl der Studenten mit einem oder mehreren Kindern ist seit Jahren konstant.
Doch die reinen Zahlen sagen eh nichts über den konkreten Einzelfall. Jede Geschichte ist anders. Dafür liegen Probleme und Herausforderungen häufig dicht beieinander. So ist der Stundenplan eigentlich die größte Herausforderung für alleinerziehende Studenten. Häufig werden wichtige Module nur zu gewissen Zeiten angeboten. Wenn sich die nicht mit der Kinderbetreuung decken, wird das rasch zum Problem. So auch bei Christina Morgenroth, die ursprünglich auch Ethik studiert hatte, wegen der vielen Abendveranstaltungen aber das Fach wechselte.
„Bei ganztägigen Modulen funktioniert das ebenfalls nicht“, sagt auch Jessica Weißhaar. Ihre heute fast zweijährige Tochter Josie hat sie, im Gegensatz zu Morgenroth, erst nach Aufnahme des Studiums bekommen. Zwar verpasste sie durch die Entbindung einige Prüfungen, legte aber kein Urlaubssemester ein. „Ich wollte den Anschluss nicht verlieren“, sagt die heute 22-Jährige, die mittlerweile auch alleinerziehend ist. Ein Status, der beide jungen Frauen nach eigener Aussage stärker und vor allem erwachsener gemacht hat. Voll durchgeplant und fokussiert ziehen sie ihr Studium durch. „Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich bin mit Kind strukturierter als andere Studenten ohne Kind“, findet Weißhaar.
Gereift und erwachsen
Morgenroth sieht das ähnlich. Durch die Verantwortung für Thiago sei sie gereift und erst richtig erwachsen geworden. „Ich war früher nie so ehrgeizig wie heute“, sagt die 28-Jährige. Nicht nur, dass Familie und Studium sonst gar nicht vereinbar wären, Morgenroth will ihrem Sohn auch vorleben, dass man für das eigene Leben selbst verantwortlich ist. Das habe sie auch erst lernen müssen, helfe ihr heute aber extrem. „Man muss es wirklich wollen und in ganz negativen Momenten Vertrauen in das eigene Können haben“, meint sie. „Und ich bin gelassen. Das ist das Hauptfeature.“Und das, obwohl sie deutlich jünger ist als die meisten Studenten mit Kind. Im Schnitt sind diese 35 Jahre alt und damit fast elf Jahre älter als der durchschnittliche deutsche Student ohne Kind.
Ungeachtet des Alters ist eine gehörige Portion Gelassenheit bei Studenten mit Kind oft unabdingbar. So zum Beispiel, wenn Thiago vor den Prüfungen krank wird oder die Kita überraschend kurzfristig geschlossen bleibt. Oder auch, wenn tagsüber so viel los ist, dass man sich abends fürs Lernen hinsetzen muss – wie eigentlich immer. „Als Studierende mit Kind braucht man sehr viel Sitzfleisch“, sagt Morgenroth, und Weißhaar konkretisiert: „Egal wie anstrengend der Tag war. Man muss sich abends hinsetzen und lernen. Es ist eine Organisationsfrage.“
Doch nicht nur das: Ohne Familie und Freunde wäre das Leben der beiden jungen Mütter kaum vorstellbar. Gerade die Großeltern von Thiago und Josie sind extrem wichtig, wenn sie auf ihre Enkel aufpassen oder mal kurzfristig einspringen. In Thiagos Fall wohnen Oma und Opa in Amtzell. Dort besucht er auch den Kindergarten. „Ohne Familie wäre es enorm schwierig. Ein gutes Netzwerk ist unendlich wichtig“, sagt Mama Christina auch hinsichtlich ihrer Kommilitonen. Diese helfen immer auch gerne mit Aufschrieben und Unterlagen aus, wenn Morgenroth die Vorlesung mal nicht besuchen kann. „Da merkt man, dass man den Kommilitonen nicht egal ist. Man ist hier nicht allein. Man braucht keine Angst zu haben. Studieren mit Kind beißt nicht“, sagt sie.
Im Gegenteil. Wenn Morgenroth ihren Sohn mit in die Vorlesung nimmt, ist er der absolute Star bei den Studenten. Und auch die Dozenten haben kein Problem mit dem kleinen Mann. „Die allermeisten Dozenten sind sehr kulant. Und wenn er stört und laut wird, dann gehe ich“, sagt Morgenroth. Das passiere aber selten. „Manchmal wird Thiago sogar spontan mit eingebunden.“Ähnliches weiß auch Weißhaar zu berichten. Auch sie hat Josie schon mehrfach mit an die PH genommen. Denn dort gibt es auch zwischen den Veranstaltungen die Möglichkeit, die Tochter zu beschäftigen. „Die Pädagogische Hochschule macht wirklich sehr viel“, sagt Weißhaar.
Neben einem Stillraum, den beide Mütter nicht mehr brauchen, gibt es auch einen Eltern-Kind-Raum. Außerdem bietet die Pädagogische Hochschule in der Gleichstellungsbeauftragten eine dauerhafte Ansprechpartnerin. Hinzu kommen Angebote des „Club F.A.I.R“– Familie, Arbeit, Individualität, Recht. Gerade der Elternstammtisch, so betonen beide Mütter, biete einen wertvollen Austausch – zwischenmenschlich, aber auch materiell, wie bei gebrauchten Kinderklamotten oder Spielsachen. Doch gebe es natürlich immer Luft nach oben, ob es die Barrierefreiheit, Familienparkplätze oder flexiblere Studienzeiten betrifft. Oder die digitale Erfassung von Vorlesungen und stundenweise Betreuungsangebote für die Kinder. Gerade Letzteres „wäre für viele Eltern eine riesige Entlastung. Da habe ich aber nicht das Gefühl, dass die PH dahintersteht“, meint Weißhaar.
Doch letztlich müsste sich das die
Christina Morgenroth über die Unterstützung der Kommilitonen
PH auch leisten können. Und nicht nur die PH muss rechnen. Auch oder gerade alleinerziehende Mütter müssen das Geld zusammenhalten, weil sie keinen erwerbstätigen Partner haben wie drei Viertel der anderen Studenten mit Kind. Dafür profitieren Morgenstern und Weißhaar von einigen staatlichen Zuschüssen. Doch während Morgenroth Bafög bekommt – wie etwa jeder fünfte Student – und weitestgehend unabhängig ist, ist Weißhaar auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen – wie im übrigen 86 Prozent der Studenten in Deutschland. „Ohne die würde es nicht gehen“, sagt sie.
Um ihre Eltern in Zukunft zu entlasten, will sich Weißhaar bald einen kleinen Job suchen. Dadurch geht aber natürlich noch mehr Freizeit verloren. Doch an Verzicht sind die beiden Mütter ohnehin schon gewöhnt – auch in anderen Bereichen. „Als studierende Mama ist man jetzt nicht so die Partyhupe“, sagt Morgenroth. „Ich habe schon den Eindruck, dass ich etwas verpasse.“Das sei aber nicht so dramatisch, sie sei noch nie die große Partygängerin gewesen. Morgenroths Bedürfnisse gehen eher in eine andere Richtung. Ihr bescheidener Wunsch: „Natürlich träumt man mal davon, einen Tag in der Hängematte zu verbringen.“
„Man ist hier nicht allein. Man braucht keine Angst zu haben. Studieren mit Kind beißt nicht.“