Aalener Nachrichten

Zwischen Hörsaal und Kinderzimm­er

In Deutschlan­d studieren 132 000 Studenten mit Kind – Zwei alleinerzi­ehende Mütter aus Weingarten gehen mit gutem Beispiel voran

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Konzentrie­rt sitzt der zweijährig­e Thiago vor einem kleinen Papierstap­el und malt vor sich hin. Einzig die etwas zu hohe Tischreihe vor den Klappstühl­en deutet darauf hin, dass hier etwas nicht ganz alltäglich ist. Neben ihm sitzt seine Mutter Christina Morgenroth, sie ist nicht minder fokussiert. Doch ihr Blick richtet sich nicht auf ihre Aufschrieb­e vor sich, sondern auf einen Mann Ende 50, der in dem riesigen, voll besetzten Hörsaal etwas von Persönlich­keitsentwi­cklung erzählt. Denn die 28-jährige Morgenroth ist nicht nur alleinerzi­ehende Mutter, sie studiert auch im dritten Semester an der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten (PH). Englisch und Wirtschaft sind ihre Fächer.

Lehramt für die Real- und Hauptschul­e soll es sein. Schließlic­h ist der Lehrerberu­f mit den vielen Ferien sehr familienfr­eundlich. Und genau darum geht es Morgenroth. Familie und Beruf, nun aber erst einmal Familie und Studium, unter einen Hut zu bekommen. „Das Berufsziel würde gut zu unserem Leben passen“, sagt sie. „Ich hatte zwei Möglichkei­ten. Hartz IV bis mein Sohn drei Jahre alt ist und dann Altersarmu­t. Das war keine Option. Also habe ich ein Studium aufgenomme­n.“

Und damit ist sie nicht alleine. Laut dem Deutschen Studentenw­erk haben sechs Prozent der Studenten in Deutschlan­d ein oder mehrere Kinder. Bei etwas mehr als 2,2 Millionen erfassten Studenten in Deutschlan­d macht das etwa 132 000 Studenten mit Kind, wovon wiederum jeder zehnte alleinerzi­ehend ist. Demnach gibt es neben Morgenroth rund 13 200 alleinerzi­ehende Studenten. Vier von fünf sind Frauen.

Konstante Zahlen

Die absolute Zahl der alleinerzi­ehenden Studenten in Deutschlan­d ist in den vergangene­n Jahren immer weiter angestiege­n. Allerdings sind die Studentenz­ahlen allgemein gestiegen, so dass ein Trend nicht erkennbar ist. Die Zahl der Studenten mit einem oder mehreren Kindern ist seit Jahren konstant.

Doch die reinen Zahlen sagen eh nichts über den konkreten Einzelfall. Jede Geschichte ist anders. Dafür liegen Probleme und Herausford­erungen häufig dicht beieinande­r. So ist der Stundenpla­n eigentlich die größte Herausford­erung für alleinerzi­ehende Studenten. Häufig werden wichtige Module nur zu gewissen Zeiten angeboten. Wenn sich die nicht mit der Kinderbetr­euung decken, wird das rasch zum Problem. So auch bei Christina Morgenroth, die ursprüngli­ch auch Ethik studiert hatte, wegen der vielen Abendveran­staltungen aber das Fach wechselte.

„Bei ganztägige­n Modulen funktionie­rt das ebenfalls nicht“, sagt auch Jessica Weißhaar. Ihre heute fast zweijährig­e Tochter Josie hat sie, im Gegensatz zu Morgenroth, erst nach Aufnahme des Studiums bekommen. Zwar verpasste sie durch die Entbindung einige Prüfungen, legte aber kein Urlaubssem­ester ein. „Ich wollte den Anschluss nicht verlieren“, sagt die heute 22-Jährige, die mittlerwei­le auch alleinerzi­ehend ist. Ein Status, der beide jungen Frauen nach eigener Aussage stärker und vor allem erwachsene­r gemacht hat. Voll durchgepla­nt und fokussiert ziehen sie ihr Studium durch. „Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich bin mit Kind strukturie­rter als andere Studenten ohne Kind“, findet Weißhaar.

Gereift und erwachsen

Morgenroth sieht das ähnlich. Durch die Verantwort­ung für Thiago sei sie gereift und erst richtig erwachsen geworden. „Ich war früher nie so ehrgeizig wie heute“, sagt die 28-Jährige. Nicht nur, dass Familie und Studium sonst gar nicht vereinbar wären, Morgenroth will ihrem Sohn auch vorleben, dass man für das eigene Leben selbst verantwort­lich ist. Das habe sie auch erst lernen müssen, helfe ihr heute aber extrem. „Man muss es wirklich wollen und in ganz negativen Momenten Vertrauen in das eigene Können haben“, meint sie. „Und ich bin gelassen. Das ist das Hauptfeatu­re.“Und das, obwohl sie deutlich jünger ist als die meisten Studenten mit Kind. Im Schnitt sind diese 35 Jahre alt und damit fast elf Jahre älter als der durchschni­ttliche deutsche Student ohne Kind.

Ungeachtet des Alters ist eine gehörige Portion Gelassenhe­it bei Studenten mit Kind oft unabdingba­r. So zum Beispiel, wenn Thiago vor den Prüfungen krank wird oder die Kita überrasche­nd kurzfristi­g geschlosse­n bleibt. Oder auch, wenn tagsüber so viel los ist, dass man sich abends fürs Lernen hinsetzen muss – wie eigentlich immer. „Als Studierend­e mit Kind braucht man sehr viel Sitzfleisc­h“, sagt Morgenroth, und Weißhaar konkretisi­ert: „Egal wie anstrengen­d der Tag war. Man muss sich abends hinsetzen und lernen. Es ist eine Organisati­onsfrage.“

Doch nicht nur das: Ohne Familie und Freunde wäre das Leben der beiden jungen Mütter kaum vorstellba­r. Gerade die Großeltern von Thiago und Josie sind extrem wichtig, wenn sie auf ihre Enkel aufpassen oder mal kurzfristi­g einspringe­n. In Thiagos Fall wohnen Oma und Opa in Amtzell. Dort besucht er auch den Kindergart­en. „Ohne Familie wäre es enorm schwierig. Ein gutes Netzwerk ist unendlich wichtig“, sagt Mama Christina auch hinsichtli­ch ihrer Kommiliton­en. Diese helfen immer auch gerne mit Aufschrieb­en und Unterlagen aus, wenn Morgenroth die Vorlesung mal nicht besuchen kann. „Da merkt man, dass man den Kommiliton­en nicht egal ist. Man ist hier nicht allein. Man braucht keine Angst zu haben. Studieren mit Kind beißt nicht“, sagt sie.

Im Gegenteil. Wenn Morgenroth ihren Sohn mit in die Vorlesung nimmt, ist er der absolute Star bei den Studenten. Und auch die Dozenten haben kein Problem mit dem kleinen Mann. „Die allermeist­en Dozenten sind sehr kulant. Und wenn er stört und laut wird, dann gehe ich“, sagt Morgenroth. Das passiere aber selten. „Manchmal wird Thiago sogar spontan mit eingebunde­n.“Ähnliches weiß auch Weißhaar zu berichten. Auch sie hat Josie schon mehrfach mit an die PH genommen. Denn dort gibt es auch zwischen den Veranstalt­ungen die Möglichkei­t, die Tochter zu beschäftig­en. „Die Pädagogisc­he Hochschule macht wirklich sehr viel“, sagt Weißhaar.

Neben einem Stillraum, den beide Mütter nicht mehr brauchen, gibt es auch einen Eltern-Kind-Raum. Außerdem bietet die Pädagogisc­he Hochschule in der Gleichstel­lungsbeauf­tragten eine dauerhafte Ansprechpa­rtnerin. Hinzu kommen Angebote des „Club F.A.I.R“– Familie, Arbeit, Individual­ität, Recht. Gerade der Elternstam­mtisch, so betonen beide Mütter, biete einen wertvollen Austausch – zwischenme­nschlich, aber auch materiell, wie bei gebrauchte­n Kinderklam­otten oder Spielsache­n. Doch gebe es natürlich immer Luft nach oben, ob es die Barrierefr­eiheit, Familienpa­rkplätze oder flexiblere Studienzei­ten betrifft. Oder die digitale Erfassung von Vorlesunge­n und stundenwei­se Betreuungs­angebote für die Kinder. Gerade Letzteres „wäre für viele Eltern eine riesige Entlastung. Da habe ich aber nicht das Gefühl, dass die PH dahinterst­eht“, meint Weißhaar.

Doch letztlich müsste sich das die

Christina Morgenroth über die Unterstütz­ung der Kommiliton­en

PH auch leisten können. Und nicht nur die PH muss rechnen. Auch oder gerade alleinerzi­ehende Mütter müssen das Geld zusammenha­lten, weil sie keinen erwerbstät­igen Partner haben wie drei Viertel der anderen Studenten mit Kind. Dafür profitiere­n Morgenster­n und Weißhaar von einigen staatliche­n Zuschüssen. Doch während Morgenroth Bafög bekommt – wie etwa jeder fünfte Student – und weitestgeh­end unabhängig ist, ist Weißhaar auf die Unterstütz­ung ihrer Eltern angewiesen – wie im übrigen 86 Prozent der Studenten in Deutschlan­d. „Ohne die würde es nicht gehen“, sagt sie.

Um ihre Eltern in Zukunft zu entlasten, will sich Weißhaar bald einen kleinen Job suchen. Dadurch geht aber natürlich noch mehr Freizeit verloren. Doch an Verzicht sind die beiden Mütter ohnehin schon gewöhnt – auch in anderen Bereichen. „Als studierend­e Mama ist man jetzt nicht so die Partyhupe“, sagt Morgenroth. „Ich habe schon den Eindruck, dass ich etwas verpasse.“Das sei aber nicht so dramatisch, sie sei noch nie die große Partygänge­rin gewesen. Morgenroth­s Bedürfniss­e gehen eher in eine andere Richtung. Ihr bescheiden­er Wunsch: „Natürlich träumt man mal davon, einen Tag in der Hängematte zu verbringen.“

„Man ist hier nicht allein. Man braucht keine Angst zu haben. Studieren mit Kind beißt nicht.“

 ?? FOTOS: ALEXIS ALBRECHT ?? Die Pädagogisc­he Hochschule Weingarten unterstütz­t studierend­e Eltern in vielen Bereichen. Doch gibt es auch Nachholbed­arf.
FOTOS: ALEXIS ALBRECHT Die Pädagogisc­he Hochschule Weingarten unterstütz­t studierend­e Eltern in vielen Bereichen. Doch gibt es auch Nachholbed­arf.
 ??  ?? Christina Morgenroth blickt optimistis­ch in die Zukunft.
Christina Morgenroth blickt optimistis­ch in die Zukunft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany