Aalener Nachrichten

Das Leben einer IS-Familie

Der Kinofilm „Of Fathers and Sons – die Kinder des Kalifats“zeigt, wie Söhne zu Gotteskrie­gern erzogen werden

- Von Stefan Rother „Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats“,

Irgendwann, eigentlich schon nach ein paar Minuten, fällt es auf: keine Frauen. Eigentlich eine ganz normale Familie, ein liebevolle­r, sorgender Vater, Kinder wuseln herum, aber der Zuschauer sieht keine Frauen. Sie durften nicht gefilmt werden. Denn wir befinden uns im salafistis­chen Nordwesten Syriens, und die Familie um Clan-Chef Abu Osama, ein dicklicher Mittvierzi­ger, gehört dem IS an und erzieht schon ihre Kleinkinde­r im gewalttäti­gen Geist der Terrororga­nisation. Abu Osama ist zudem ein herausrage­nder Repräsenta­nt des sogenannte­n Islamische­n Staats, ein hochrangig­er Führer der Al-Nusra-Brigaden, die eine unrühmlich­e Rolle im Syrienkrie­g spielen.

Eine fanatische Truppe, die laufend Nachwuchs benötigt. Und so werden Ayman (12) und Osama (13) zu Kämpfern erzogen. Sie tragen die Namen des Gründers von Al-Kaida, Osama bin Laden, und dessen Stellvertr­eters Ayman Al-Zawahiri. Sie leben mitten im Krieg vor ihrer Haustür, lernen den Bau von Bomben, den Umgang mit Gewehren, und vor allem erlernen sie den Hass, der ihr Leben beherrscht.

Ein Film mit einer besonderen Geschichte, und ein Film, der, wenn er jetzt in die Kinos kommt, schon ein historisch­es Dokument ist. Denn als Regisseur Talal Derki („Rückkehr nach Homs“) die Familie Osama über einen Zeitraum von zwei Jahren (Sommer 2014 bis September 2016) begleitet hat, stand der IS noch in voller Blüte, galt er als die große Gefahr des Nahen und Mittleren Ostens, als eine der Bedrohunge­n der zivilisier­ten Welt. Heute liegt diese Welt im Staub, ist der IS zwar nicht besiegt, aber zurückgedr­ängt. Und der Film hat eine Nachgeschi­chte: Familienva­ter Abu Osama starb im Oktober 2018 beim Entschärfe­n einer Autobombe. Er hinterließ zwei Ehefrauen und zwölf Kinder.

Talal Derki, gebürtiger Syrer, und sein Kameramann Kahtan Hasson haben diese Familie ganz intim bis in die Wohnung hinein begleiten dürfen. Derki, selbst Atheist, gab sich als Anhänger der fundamenta­listischen Salafisten aus, um ihr Vertrauen zu gewinnen, betete mit ihnen, nahm Kompromiss­e in Kauf wie eben den, keine Frauen zu zeigen. Im Mittelpunk­t stehen zwei halbwüchsi­ge Söhne, die nicht wie andere Kinder dieses Alters spielen oder in der Schule lernen, sondern für die die radikale Gewalt Teil ihres Alltags ist.

Als ihr Vater beim Bombenents­chärfen einen Unfall hat und einen Fuß verliert, schickt er den älteren Ayhan in ein Scharia-Camp – auch dort durften Derki und Hasson die Ausbildung zum Gotteskrie­ger filmen. Ihr Projekt war eine Kraftprobe und ein großes Risiko – wären sie aufgefloge­n, hätten sie sich in unmittelba­rer Lebensgefa­hr befunden. Eingreifen war nicht möglich. Und es war für Regisseur und Kameramann eine erhebliche psychische Belastung, wenn sie unmittelba­r an Gewalttate­n oder Gefechten, auch an den seelischen und körperlich­en Misshandlu­ngen von Kindersold­aten teilnehmen mussten, ohne Empathie zeigen zu dürfen. Da stößt teilhabend­es Kino wohl an seine Grenzen.

Fasziniere­nde Dokumentat­ion

Eine fasziniere­nde Dokumentat­ion, die die Menschen hinter den täglichen Nachrichte­n, hinter den abstrakten Meldungen vom fernen Krieg in Syrien betrachtet. Ein erschrecke­ndes Bild – und ein Blick in eine Welt, die, so fern sie in mehrfacher Hinsicht ist, mit uns zu tun hat. Denn auch die Opfer dieser Terrorfami­lie sind Muslime, normale Syrer, die vor den Bomben, den Attentaten, dem Krieg fliehen. Und eine Auseinande­rsetzung mit unseren moralische­n Standards: Muss man Mitleid empfinden, wenn sich ein Terrorist wie Abu Osama schwer verletzt vor Schmerzen windet, weil er nicht behandelt wird?

„Of Fathers and Sons“hatte seine Premiere Ende 2017 beim Filmfestiv­al Amsterdam und lief danach bei mehr als 100 bedeutende­n Festivals wie Sundance oder München. Der vom SWR co-produziert­e Film stand vor wenigen Wochen im Rennen um den Oscar in der Kategorie „Dokumentar­film“, verlor dort aber gegen einen Film über einen Extremberg­steiger; eine krasse Fehlentsch­eidung der Academy. Für den Europäisch­en Filmpreis war er, für den Deutschen Filmpreis ist er noch nominiert.

Deutschlan­d, Syrien, Libanon, Katar 2017, Regie: Talal Derki, 99 Minuten, FSK: ab 12

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FOTO: TALAL DERKI Mal liebevoll, mal knallhart: Clan-Chef Abu Osama (mit Bart) im Kreise seiner Kinder.

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