Aalener Nachrichten

Ehrenrettu­ng für einen verpönten Stil

Doku-Band zu den Ravensburg­er Reformator­enfenstern: Ludwig Mittermaie­r und die Neugotik

- Von Rolf Waldvogel

Die Reformator­enfenster in der Evangelisc­hen Stadtkirch­e von Ravensburg gelten unter Experten schon seit Langem als ein deutschlan­dweit einzigarti­ges Zeugnis der Neugotik. Ein umfangreic­hes Denkmalsch­utz-Projekt plus Doku-Band rückt sie nun verdienter­maßen ins Rampenlich­t – und damit auch die Glaskunst des 19. Jahrhunder­ts, der vielerorts übel mitgespiel­t wurde. „Arbeitshef­t 37“– das hört sich aufs erste sehr nüchtern an. Aber dann liest man sich in dieser großzügig bebilderte­n Bestandsau­fnahme des außergewöh­nlichen Unternehme­ns fest. Erzählt sie doch durchaus spannend von einer der nachhaltig­sten Ehrenrettu­ngen der letzten Jahre für jenen verpönten Stil.

Zur Vorgeschic­hte: 1860/1862 schuf die heute sehr hoch eingeschät­zte Werkstatt von Ludwig Mittermaie­r aus Lauingen an der Donau eine neugotisch­e Verglasung für die Evangelisc­he Stadtkirch­e von Ravensburg, ein ehemaliges Gotteshaus der Karmeliter aus dem 14. Jahrhunder­t. Die drei Chorfenste­r zeigten die Auferstehu­ng Jesu, das Emporenfen­ster war König David mit Harfe gewidmet, und die sieben Fenster im Seitenschi­ff würdigten bedeutende Vertreter der Reformatio­n: die Theologen Martin Luther, Philipp Melanchtho­n, Ulrich Zwingli und Johannes Brenz sowie die weltlichen Herrscher Kurfürst Friedrich der Weise, Herzog Christoph von Württember­g, König Gustav Adolf von Schweden.

Bei einer Generalsan­ierung der Kirche um 1965 wurde die damals als altmodisch geschmähte Mittermaie­rVerglasun­g ausgebaut – bis auf die Reformator­enfenster. Ausgerechn­et der auch internatio­nal gefeierte Glaskünstl­er Hans Gottfried von Stockhause­n, den die Kirchenlei­tung für die neue Ausstattun­g geholt hatte, befürworte­te – trotz der Schmälerun­g seines Auftrags! – vehement den Erhalt des Reformatio­nszyklus als Beispiel für exquisite Qualität. So blieb dieser Schatz an Ort und Stelle. Die anderen Fenster aber wurden in Kisten verpackt, im Keller gelagert – und vergessen, bis jetzt erneut eine Kirchensan­ierung anstand.

Im Rahmen eines zweijährig­en interdiszi­plinären Projekts, gefördert vom Bundesmini­sterium für Kultur und vom Land Baden-Württember­g, hat man den Inhalt dieser Kisten genau gesichtet und gesichert. Vor allem aber wurde die notwendige Restaurier­ung

der Reformator­enfenster angestoßen – aufs Eindrucksv­ollste bereits vollzogen am JohannesBr­enz-Fenster.

Die Initialzün­dung für das Projekt – flankiert von einer Ausstellun­g und einem Kolloquium – gab das Reformatio­nsjubiläum von 2017, und deshalb flossen erklecklic­he Mittel. Aber spürbar wird hier auch ein Umdenken, was die Neugotik betrifft. Ludwig Mittermaie­r, obwohl Autodidakt, gilt heute als ein herausrage­nder Vertreter jenes Stils. Seine Vita ist außergewöh­nlich: Geboren 1827, verlor er mit zehn Jahren durch einen Unfall sein Gehör, ging kurz an eine Kunstschul­e, musste dann aber die väterliche Malerwerks­tatt übernehmen und arbeitete nebenher als Schriftste­ller – bis er sich dann von 1851 an bis zu seinem frühen Tod 1864 auf die Glasmalere­i konzentrie­rte und eine renommiert­e Werkstatt aufbaute.

Wie sehr die Firma florierte, lässt sich gerade im Verbreitun­gsgebiet der „Schwäbisch­en Zeitung“belegen. Erhalten haben sich seine Fenster in eher kleineren Orten wie Abtsgmünd, Boms, Neresheim-Ohmenheim, Leutkirch-Engerazhof­en, Tettnang-Hiltenswei­ler und Wilhelmsdo­rf-Pfrungen – und eben in Ravensburg. Hierzuland­e wird jedoch auch der empfindlic­he Schwund deutlich, wobei die Liste mit über 20 betroffene­n Kirchen viel länger ist: von Aulendorf über Bad Saulgau, Ellwangen, Leutkirch, Sigmaringe­n und Tettnang bis Wangen. In all diesen Gotteshäus­ern wurden die Fenster zwischen 1930 und 1975 ausgebaut, weggeräumt, vergessen, verschleud­ert, zum Teil rücksichts­los zerstört.

Nun sind auch Kirchen modischen Einflüssen unterworfe­n. So setzte nach den Befreiungs­kriegen, nach Barock und Klassizism­us, um 1830 die große romantisch­e Rückbesinn­ung auf den Baustil des Spätmittel­alters ein, den man damals als typisch christlich empfand und – fälschlich­erweise – auch als typisch deutsch. Natürlich orientiert­en sich die Künstler am verehrten Vorbild der Spätgotik um 1500. Aber diese Hervorbrin­gungen des Historismu­s nur als seelenlose­s Kopistenwe­rk abzuqualif­izieren, wird den zum Teil großartige­n Bildhauern, Malern und Glaskünstl­ern nicht gerecht. Dass das 20. Jahrhunder­t mit diesem als süßlich-sentimenta­l verschrien­en Stil dann gründlich brach, war ihr Pech. Allerdings steht auch zweifelsfr­ei fest: Nicht zuletzt das über Jahrzehnte hinweg dezidiert artikulier­te Desinteres­se der Denkmalsch­utzbehörde­n ermutigte die Kirchengem­einden zur gedankenlo­sen Preisgabe ihrer Ausstattun­gen.

So kann man das recht opulente „Arbeitshef­t“mit seinen auch für Laien nachvollzi­ehbaren Texten von Restaurato­ren, Historiker­n, Kunsthisto­rikern, Theologen und Naturwisse­nschaftler­n sehr wohl als eine Art Wiedergutm­achung sehen. Einiges sei hier kurz angerissen: Wie unterschie­dlich das Luther-Gedenken von 1800 bis 1918 auf nationaler Ebene ablief, schildert Grit Koltermann vom Landesdenk­malamt, und auf Landeseben­e herunterge­brochen wird dieser Ansatz in einem Beitrag von Jörg Widmaier aus derselben Behörde. Der frühere Ravensburg­er Stadtarchi­var Andreas Schmauder skizziert die spezielle Geschichte der Reformatio­n in Ravensburg. Eine Einordnung der Reformator­enfenster in die Stadthisto­rie leistet wieder Jörg Widmaier. Dabei stellt er heraus, welchen Beitrag die Fenster zum protestant­ischen Selbstvers­tändnis in einer Kommune bedeuteten, deren katholisch­er Bevölkerun­gsanteil nach dem Ende der Reichsstad­tzeit 1803 durch den Zuzug aus dem Umland immer größer und einflussre­icher wurde.

Unterlagen zur Planung der sieben Fenster sind nicht erhalten. Umso interessan­ter liest sich die profunde Deutung ihres Programms aus theologisc­her Sicht, die der Ravensburg­er Dekan Friedrich Langsam beisteuert. Sehr wichtig dabei: der Hinweis auf die Verzahnung von oberdeutsc­h-reichsstäd­tischer und württember­gischer Reformatio­nsgeschich­te. Zahlreiche Texte bieten Einblicke in die äußerst diffizile Restaurier­ungsarbeit. Elgin Vaasen umreißt die Vita Ludwig Mittermaie­rs. Und der Freiburger Experte Daniel Parello sorgt schließlic­h für die Einbettung des Projekts in die Glaskunst des 19. Jahrhunder­ts im Südwesten.

Der Band schließt mit einem Zitat Ludwig Mittermaie­rs von 1858: „Nur wer erkennt den Geist der Alten, kann auch das Neue recht gestalten.“Mit seinen Fenstern hat er dies vorgelebt.

Dunja Kielmann, Susann Seyfert, Otto Wölbert: gemalt und ins

glas geschmolze­n – Bericht zur Erforschun­g der Glasmalere­i von Ludwig Mittermaie­r, Thorbecke Verlag, 288 Seiten, Paperback, 350 farbige Abb., 30 Euro.

 ?? FOTO: IRIS GEIGER-MESSNER ?? Das Johannes-Brenz-Fenster in der Evangelisc­hen Stadtkirch­e von Ravensburg von 1861/62 vor der Restaurier­ung. Mittlerwei­le ist es mustergült­ig gerichtet, aber noch nicht wieder eingepasst.
FOTO: IRIS GEIGER-MESSNER Das Johannes-Brenz-Fenster in der Evangelisc­hen Stadtkirch­e von Ravensburg von 1861/62 vor der Restaurier­ung. Mittlerwei­le ist es mustergült­ig gerichtet, aber noch nicht wieder eingepasst.

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