Patrick Modiano und der Geist der Orte
Die Sehnsucht nach Zeiten und Zuständen der Vergangenheit ist in den Romanen des französischen Nobelpreisträgers Patrick Modiano ein existenzielles Bedürfnis. Er imaginiert auf unnachahmliche Weise ein literarisches Reich, in dem Impressionen aus Gegenwart und Vergangenheit zu einer faszinierenden Einheit miteinander verschmelzen. Kein Autor der Gegenwart hat Paris so zum Helden seiner Rekonstruktionsversuche gemacht wie Modiano. Er geht dabei vor wie ein kundiger Kartograf, der sich gewissenhaft durch Straßen und Viertel arbeitet, mit deren Namen sich für den Erzähler unverwechselbare vergangene Ereignisse verbinden. Denn es geht wie in fast allen seinen Büchern auch in „Schlafende Erinnerungen“um den inneren Zusammenhang einer im Dunklen vergessenen Vergangenheit.
Da ist der 17-Jährige, der aus dem Collège in der Haute-Savoie flüchtet und sich in Paris herumtreibt, von seinen Eltern kaum beachtet. Bei seinen Streifzügen durch Paris lernt er merkwürdige Frauen kennen, die irgendwie auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind. Die junge Geneviève Dalame hat es ihm angetan. Aber da stört ihr krimineller Bruder, der die beiden verfolgt und dessen er sich nur durch Gewalt entledigen kann. Oder die alternde Madeleine Péraud, die sich auf Yoga und Esoterik spezialisiert hat. Mit ihr teilt der junge Mann sein Faible für Magie und okkulte Bücher.
All diese Jugenderinnerungen in dem mittlerweile von vielen Lesern zu Recht bewunderten ModianoSound bewegen sich erneut in einer Traumwelt, die wiederum zu bestätigen scheint, dass der in Privatsachen so verschwiegene Romancier über die persönliche Vergangenheit wenig verbindliche Wahrheiten erzählen kann. Es gibt immer wieder Lücken, Mutmaßungen, Obsessionen, die wie ein romanhaftes Gewebe aus Bildern, Stimmungen und Fragen geknüpft erscheinen. Es sind Daten und Fakten eines Lebens, „das nicht das meine war“, wie Modiano einmal geschrieben hat. „Schlafende Erinnerungen“ist dennoch das Buch eines Autors, der auf dem Höhepunkt seines Schaffens steht.
Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen, Roman, Hanser, 111 Seiten, 16 Euro.