Aalener Nachrichten

Die Wörtersamm­lerin

„Im Heimweh ist ein blauer Saal“: Herta Müllers neue Collagen vom Küchentisc­h

- Von Gerd Roth, dpa Herta Müller: Im Heimweh ist ein blauer Saal, Hanser Verlag, München, 128 Seiten, 22 Euro.

Alles geht zurück auf einen Küchentisc­h. Das Hackbrett dort diente Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller als Unterlage für ihre Wörtersamm­lung. Daraus entstanden­e Sätze und Collagen hat die 65-Jährige nun im Band „Im Heimweh ist ein blauer Saal“versammelt. Es sind verdichtet­e, gedichtete Sätze, die sich auf Postkarten­größe zu kleinen Geschichte­n entwickeln. An manchen Stellen arbeitet Müller auch mit einem Reim. Doch geht sie dabei nach eigenen Worten mit Bedacht vor: „Man darf ihn der Collage nicht ansehen.“

Bereits 2012 hat Müller ihre Wörtersamm­lung in „Vater telefonier­t mit den Fliegen“verarbeite­t. Einen neuen Roman hat die Autorin seit ihrem gefeierten Werk „Atemschauk­el“2009 und dem Literaturn­obelpreis im selben Jahr nicht mehr vorgelegt. „Sie hat Angst vor dem Schreibpro­zess“, sagt ihr früherer Mann, der Schriftste­ller Richard Wagner, in einem der raren TV-Porträts, auf das sich Müller 2014 im Bayerische­n Rundfunk einließ. Der Autor und langjährig­e Freund Ernest Wichner ergänzt: „Sie schreibt nur, wenn sie sich nicht mehr zu helfen weiß.“

Nun also neue Wortcollag­en. Die in Berlin lebende Müller erzählt die Geschichte dazu: Aus ihrer Heimat Rumänien kannte sie nur „nach Schmieröl stinkende Staatszeit­ungen“. Nach ihrem Wechsel in die Bundesrepu­blik schnitt sie aus Zeitungen

und Magazinen Wörter und Fotos aus, klebte sie auf Karten und schickte sie an Freunde.

Die Sammlung wurde größer, bald reichten weder Hackbrett noch eigener Tisch für die Wörter in allen Farben und Formen – „ihre Unterschie­dlichkeit macht die Texte sinnlich“. Der lexikalisc­he Schatz landete in einem Schränkche­n, wohlsortie­rt in Schubladen.

Meist ohne Satzzeiche­n

„Im Heimweh ist ein blauer Saal“versammelt neben der Einführung Müllers 117 dieser Wortkollag­en, jeweils mit ebenfalls oft zusammenge­setzten Bildern auf Postkarten­größe komponiert. Es sind kaum mehr als zwei, drei, manchmal vier satzartige Gebilde, deren Konstrukti­onen meist ohne Satzzeiche­n nicht immer auf Anhieb zu erkennen sind. Manche der Wörter scheinen auch zu zwei Sätzen gehören zu wollen und verändern entspreche­nd den Sinn.

Einige Karten erinnern an geklebte Erpresserb­riefe. Wieder andere an Puzzleteil­e, die zugeordnet werden wollen. Die Augen hangeln sich von Ausschnitt zu Ausschnitt. Nicht nur die Wörter tragen einen Sinn, auch Farben, Formen, Anordnung auf der Karte. Wo endet der Satz? Welches Wort nimmt einen neuen Strang auf ? So sperren sich die Karten und ihre Wörter vor raschen Interpreta­tionen, für Gedankensp­iele und Assoziatio­nen bleibt viel Raum zwischen den aufgeklebt­en Kombinatio­nen. Müller selbst dazu: „Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen können.“

Ein Beispiel: „Und an der Ecke gelingt der kleinen Straße die Kunst der Krümmung einer Kaffeetass­e“. Nun, die rein textliche Wiedergabe der auf so vielen optischen Ebenen wirkenden Konstrukti­onen ist selbst noch wenig befriedige­nd. Im Buch vermittelt die Optik weitere Eindrücke. Die geklebte Realität der Postkarten ist aktuell ebenfalls zu sehen: Das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen, zu dessen Gründung Müller 1994 gemeinsam mit anderen Schriftste­llern und Dichtern aufrief, zeigt noch bis zum 9. Juni 2020 eine Auswahl von Müllers literarisc­hen und visuellen Collagen im Original.

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FOTO: DPA Herta Müller mit ihren Wortcollag­en.

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