Die Wörtersammlerin
„Im Heimweh ist ein blauer Saal“: Herta Müllers neue Collagen vom Küchentisch
Alles geht zurück auf einen Küchentisch. Das Hackbrett dort diente Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller als Unterlage für ihre Wörtersammlung. Daraus entstandene Sätze und Collagen hat die 65-Jährige nun im Band „Im Heimweh ist ein blauer Saal“versammelt. Es sind verdichtete, gedichtete Sätze, die sich auf Postkartengröße zu kleinen Geschichten entwickeln. An manchen Stellen arbeitet Müller auch mit einem Reim. Doch geht sie dabei nach eigenen Worten mit Bedacht vor: „Man darf ihn der Collage nicht ansehen.“
Bereits 2012 hat Müller ihre Wörtersammlung in „Vater telefoniert mit den Fliegen“verarbeitet. Einen neuen Roman hat die Autorin seit ihrem gefeierten Werk „Atemschaukel“2009 und dem Literaturnobelpreis im selben Jahr nicht mehr vorgelegt. „Sie hat Angst vor dem Schreibprozess“, sagt ihr früherer Mann, der Schriftsteller Richard Wagner, in einem der raren TV-Porträts, auf das sich Müller 2014 im Bayerischen Rundfunk einließ. Der Autor und langjährige Freund Ernest Wichner ergänzt: „Sie schreibt nur, wenn sie sich nicht mehr zu helfen weiß.“
Nun also neue Wortcollagen. Die in Berlin lebende Müller erzählt die Geschichte dazu: Aus ihrer Heimat Rumänien kannte sie nur „nach Schmieröl stinkende Staatszeitungen“. Nach ihrem Wechsel in die Bundesrepublik schnitt sie aus Zeitungen
und Magazinen Wörter und Fotos aus, klebte sie auf Karten und schickte sie an Freunde.
Die Sammlung wurde größer, bald reichten weder Hackbrett noch eigener Tisch für die Wörter in allen Farben und Formen – „ihre Unterschiedlichkeit macht die Texte sinnlich“. Der lexikalische Schatz landete in einem Schränkchen, wohlsortiert in Schubladen.
Meist ohne Satzzeichen
„Im Heimweh ist ein blauer Saal“versammelt neben der Einführung Müllers 117 dieser Wortkollagen, jeweils mit ebenfalls oft zusammengesetzten Bildern auf Postkartengröße komponiert. Es sind kaum mehr als zwei, drei, manchmal vier satzartige Gebilde, deren Konstruktionen meist ohne Satzzeichen nicht immer auf Anhieb zu erkennen sind. Manche der Wörter scheinen auch zu zwei Sätzen gehören zu wollen und verändern entsprechend den Sinn.
Einige Karten erinnern an geklebte Erpresserbriefe. Wieder andere an Puzzleteile, die zugeordnet werden wollen. Die Augen hangeln sich von Ausschnitt zu Ausschnitt. Nicht nur die Wörter tragen einen Sinn, auch Farben, Formen, Anordnung auf der Karte. Wo endet der Satz? Welches Wort nimmt einen neuen Strang auf ? So sperren sich die Karten und ihre Wörter vor raschen Interpretationen, für Gedankenspiele und Assoziationen bleibt viel Raum zwischen den aufgeklebten Kombinationen. Müller selbst dazu: „Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen können.“
Ein Beispiel: „Und an der Ecke gelingt der kleinen Straße die Kunst der Krümmung einer Kaffeetasse“. Nun, die rein textliche Wiedergabe der auf so vielen optischen Ebenen wirkenden Konstruktionen ist selbst noch wenig befriedigend. Im Buch vermittelt die Optik weitere Eindrücke. Die geklebte Realität der Postkarten ist aktuell ebenfalls zu sehen: Das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen, zu dessen Gründung Müller 1994 gemeinsam mit anderen Schriftstellern und Dichtern aufrief, zeigt noch bis zum 9. Juni 2020 eine Auswahl von Müllers literarischen und visuellen Collagen im Original.