Abschied unter Tränen
Nach Spekulationen kündigt Premierministerin May ihren Rücktritt von Partei- und Staatsamt an
LONDON - Nach langen Spekulationen hat die britische Premierministerin Theresa May am Freitag das Ende ihrer dreijährigen Amtszeit bekannt gegeben. Am 7. Juni will die 62Jährige den Vorsitz ihrer konservativen Partei abgeben. Als möglicher Nachfolger gilt der frühere Tory-Außenminister Boris Johnson. LabourOppositionsführer Jeremy Corbyn forderte sofortige Neuwahlen. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Warum kam die Erklärung am Freitag?
May stand seit Monaten unter dem Druck ihres rechten Parteiflügels, vor allem der Brexit-Ultras. Ein fraktionsinternes Misstrauensvotum hatte sie im Dezember gerade noch überstanden. Widerstrebend musste die Vorsitzende öffentlich bestätigen: Sie würde die älteste Partei der Welt nicht in die nächste Wahl führen. Nach den katastrophalen Niederlagen für ihr EU-Austrittspaket zu Jahresbeginn nahm May eine weitere Frontbegradigung vor: Sie werde Staats- und Parteiamt „vor der nächsten Phase der Brexit-Verhandlungen“niederlegen. Kürzlich verlegte sich die Premierministerin auf einen letzten Versuch: Anfang Juni sollte sich das Unterhaus erneut mit dem Austrittsvertrag und der politischen Erklärung beschäftigen, angereichert nun durch die Möglichkeit, die Zustimmung an eine Zollunion mit der EU und sogar an ein zweites Referendum zu koppeln. Dies ging bisher kompromissbereiten Brexiteers wie der Parlamentsministerin Andrea Leadsom zu weit. Leadsoms Rücktritt, dazu der energische Widerstand von Außenminister Jeremy Hunt und Innenressortchef Sajid Javid brachten die Regierungschefin am Donnerstag auf den Boden der Realität: Ihre Zeit war um. Am Freitag trat May ans hastig installierte Rednerpult vor ihrem Amtssitz in der Downing Street. Sie empfinde tiefes Bedauern darüber, dass der vom Volk beschlossene EUAustritt bisher nicht vollzogen sei, sagte die Premierministerin und räumte damit ihr Scheitern an der wichtigsten Aufgabe ihrer Amtszeit ein. Unter Tränen verschwand May hinter der schwarzen Tür mit der goldenen Nummer 10.
Welche unmittelbaren Folgen hat ihre Rücktrittserklärung?
Da May offiziell von der Queen ernannt wurde, ändert sich zunächst an ihrem Status gar nichts. Spät am Sonntagabend werden die Ergebnisse der Europawahl vom Donnerstag bekanntgegeben. Den Umfragen zufolge dürfte die Partei höchstens zehn Prozent (Unterhauswahl 2017: 42) und damit das schlechteste Ergebnis seit Einführung demokratischer Wahlen erzielt haben. Anfang Juni kommt USPräsident Donald Trump auf Staatsbesuch. Am 6. Juni steht den Konservativen dann eine weitere schmerzhafte Niederlage ins Haus. Bei der Nachwahl in Peterborough sehen die Demoskopen die Regierungspartei hinter der Brexit-Party von Nigel Farage und Labour abgeschlagen auf Platz drei. Tags darauf legt May offiziell ihr Amt als Parteivorsitzende nieder und gibt damit den Startschuss für das Nachfolgerennen. Das parteiinterne Verfahren sieht vor, dass die Unterhausabgeordneten das große Bewerberfeld in mehreren Abstimmungen auf zwei Kandidaten reduzieren, die danach den rund 120 000 Parteimitgliedern zur Wahl gestellt werden. Bis Mitte Juli soll die Nachfolgerin oder der Nachfolger feststehen; erst dann verlässt May ihren Amtssitz in der Downing Street und bittet Elisabeth II um ihre Entlassung.
Wer bringt sich für Mays Nachfolge in Stellung?
Einen Hinweis auf die Priorität der Brexit-Ultras lieferte die Reaktion von Nigel Farage, dessen neugegründete Brexit-Party die Europawahl gewonnen haben dürfte. May habe die Stimmung im Land falsch eingeschätzt, behauptete der Befürworter des Chaos-Brexit („No Deal“). Nach zwei pro-europäischen Chefs müssten die Torys nun einen Brexiteer wählen: „Sonst ist die Partei erledigt.“Tatsächlich konzentrieren sich die Nachfolgeüberlegungen der 313 konservativen Fraktionsmitglieder auf jene Kandidaten, die im Referendum 2016 für den EU-Austritt geworben hatten. Boris Johnson, 54, hat in den vergangenen Monaten viele Abgeordnete umworben. Eifrig Unterstützer sammelte auch der kurzzeitige Brexit-Minister Dominic Raab, 45. Der dogmatische Brexiteer hat sich mit der Mitteilung unsterblich gemacht, er habe „gar nicht gewusst, wieviel von unserem Handel über Dover und Calais abgewickelt wird“, nämlich etwa 30 Prozent aller britischen Importe. Dennoch verfolgt Raab unbeirrt den Chaos-Brexit. EUFreunden wie Sozialministerin Amber Rudd, 55, werden keine Chancen eingeräumt.
Wie wahrscheinlich ist Premierminister Boris Johnson?
Bei Buchmachern und beim Parteivolk kommt dem einstigen Londoner Bürgermeister und Außenminister eindeutig die Favoritenrolle zu. In der konservativen Partei ist dies keine komfortable Position: Seit mehr als 50 Jahren gewann bei allen Kämpfen um den Parteivorsitz am Ende nie der ursprünglich Führende. Für seine beiden Amtszeiten im Londoner Rathaus konnte Johnson auch Stimmen jenseits des konservativen Lagers gewinnen. Seine Ausstrahlung bei den überwiegend EU-freundlichen Hauptstädtern (60 Prozent für Verbleib) hat allerdings durch seine Brexit-Haltung ebenso gelitten wie in Schottland (62). Hingegen genießt er in weiten Teilen Englands hohe Zustimmungswerte. Johnson propagiert eine Neuverhandlung des Austrittsvertrages mit dem Ziel, die Notfalllösung für Nordirland, den sogenannten Backstop, zu verändern.
Wie reagiert die EU und was bedeutet das für den Brexit?
Eine Sprecherin von Angela Merkel sprach am Freitag von „Respekt“vor einer Politikerin, mit der die Bundeskanzlerin gut zusammengearbeitet habe. Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobte May als „mutige Frau“. Es gab auch warnende Stimmen. Eine spanische Regierungssprecherin bezeichnete den Rücktritt als schlechte Nachricht, weil dieser den No Deal wahrscheinlicher mache. Tatsächlich dürfte ein Entgegenkommen Brüssels entscheidend von der Position Irlands abhängen. Premierminister Leo Varadkar hat stets am backstop festgehalten; andererseits wäre aber der No Deal für die grüne Insel so verheerend wie für das Austrittsland selbst.