Aalener Nachrichten

Abschied unter Tränen

Nach Spekulatio­nen kündigt Premiermin­isterin May ihren Rücktritt von Partei- und Staatsamt an

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach langen Spekulatio­nen hat die britische Premiermin­isterin Theresa May am Freitag das Ende ihrer dreijährig­en Amtszeit bekannt gegeben. Am 7. Juni will die 62Jährige den Vorsitz ihrer konservati­ven Partei abgeben. Als möglicher Nachfolger gilt der frühere Tory-Außenminis­ter Boris Johnson. LabourOppo­sitionsfüh­rer Jeremy Corbyn forderte sofortige Neuwahlen. Die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Warum kam die Erklärung am Freitag?

May stand seit Monaten unter dem Druck ihres rechten Parteiflüg­els, vor allem der Brexit-Ultras. Ein fraktionsi­nternes Misstrauen­svotum hatte sie im Dezember gerade noch überstande­n. Widerstreb­end musste die Vorsitzend­e öffentlich bestätigen: Sie würde die älteste Partei der Welt nicht in die nächste Wahl führen. Nach den katastroph­alen Niederlage­n für ihr EU-Austrittsp­aket zu Jahresbegi­nn nahm May eine weitere Frontbegra­digung vor: Sie werde Staats- und Parteiamt „vor der nächsten Phase der Brexit-Verhandlun­gen“niederlege­n. Kürzlich verlegte sich die Premiermin­isterin auf einen letzten Versuch: Anfang Juni sollte sich das Unterhaus erneut mit dem Austrittsv­ertrag und der politische­n Erklärung beschäftig­en, angereiche­rt nun durch die Möglichkei­t, die Zustimmung an eine Zollunion mit der EU und sogar an ein zweites Referendum zu koppeln. Dies ging bisher kompromiss­bereiten Brexiteers wie der Parlaments­ministerin Andrea Leadsom zu weit. Leadsoms Rücktritt, dazu der energische Widerstand von Außenminis­ter Jeremy Hunt und Innenresso­rtchef Sajid Javid brachten die Regierungs­chefin am Donnerstag auf den Boden der Realität: Ihre Zeit war um. Am Freitag trat May ans hastig installier­te Rednerpult vor ihrem Amtssitz in der Downing Street. Sie empfinde tiefes Bedauern darüber, dass der vom Volk beschlosse­ne EUAustritt bisher nicht vollzogen sei, sagte die Premiermin­isterin und räumte damit ihr Scheitern an der wichtigste­n Aufgabe ihrer Amtszeit ein. Unter Tränen verschwand May hinter der schwarzen Tür mit der goldenen Nummer 10.

Welche unmittelba­ren Folgen hat ihre Rücktritts­erklärung?

Da May offiziell von der Queen ernannt wurde, ändert sich zunächst an ihrem Status gar nichts. Spät am Sonntagabe­nd werden die Ergebnisse der Europawahl vom Donnerstag bekanntgeg­eben. Den Umfragen zufolge dürfte die Partei höchstens zehn Prozent (Unterhausw­ahl 2017: 42) und damit das schlechtes­te Ergebnis seit Einführung demokratis­cher Wahlen erzielt haben. Anfang Juni kommt USPräsiden­t Donald Trump auf Staatsbesu­ch. Am 6. Juni steht den Konservati­ven dann eine weitere schmerzhaf­te Niederlage ins Haus. Bei der Nachwahl in Peterborou­gh sehen die Demoskopen die Regierungs­partei hinter der Brexit-Party von Nigel Farage und Labour abgeschlag­en auf Platz drei. Tags darauf legt May offiziell ihr Amt als Parteivors­itzende nieder und gibt damit den Startschus­s für das Nachfolger­ennen. Das parteiinte­rne Verfahren sieht vor, dass die Unterhausa­bgeordnete­n das große Bewerberfe­ld in mehreren Abstimmung­en auf zwei Kandidaten reduzieren, die danach den rund 120 000 Parteimitg­liedern zur Wahl gestellt werden. Bis Mitte Juli soll die Nachfolger­in oder der Nachfolger feststehen; erst dann verlässt May ihren Amtssitz in der Downing Street und bittet Elisabeth II um ihre Entlassung.

Wer bringt sich für Mays Nachfolge in Stellung?

Einen Hinweis auf die Priorität der Brexit-Ultras lieferte die Reaktion von Nigel Farage, dessen neugegründ­ete Brexit-Party die Europawahl gewonnen haben dürfte. May habe die Stimmung im Land falsch eingeschät­zt, behauptete der Befürworte­r des Chaos-Brexit („No Deal“). Nach zwei pro-europäisch­en Chefs müssten die Torys nun einen Brexiteer wählen: „Sonst ist die Partei erledigt.“Tatsächlic­h konzentrie­ren sich die Nachfolgeü­berlegunge­n der 313 konservati­ven Fraktionsm­itglieder auf jene Kandidaten, die im Referendum 2016 für den EU-Austritt geworben hatten. Boris Johnson, 54, hat in den vergangene­n Monaten viele Abgeordnet­e umworben. Eifrig Unterstütz­er sammelte auch der kurzzeitig­e Brexit-Minister Dominic Raab, 45. Der dogmatisch­e Brexiteer hat sich mit der Mitteilung unsterblic­h gemacht, er habe „gar nicht gewusst, wieviel von unserem Handel über Dover und Calais abgewickel­t wird“, nämlich etwa 30 Prozent aller britischen Importe. Dennoch verfolgt Raab unbeirrt den Chaos-Brexit. EUFreunden wie Sozialmini­sterin Amber Rudd, 55, werden keine Chancen eingeräumt.

Wie wahrschein­lich ist Premiermin­ister Boris Johnson?

Bei Buchmacher­n und beim Parteivolk kommt dem einstigen Londoner Bürgermeis­ter und Außenminis­ter eindeutig die Favoritenr­olle zu. In der konservati­ven Partei ist dies keine komfortabl­e Position: Seit mehr als 50 Jahren gewann bei allen Kämpfen um den Parteivors­itz am Ende nie der ursprüngli­ch Führende. Für seine beiden Amtszeiten im Londoner Rathaus konnte Johnson auch Stimmen jenseits des konservati­ven Lagers gewinnen. Seine Ausstrahlu­ng bei den überwiegen­d EU-freundlich­en Hauptstädt­ern (60 Prozent für Verbleib) hat allerdings durch seine Brexit-Haltung ebenso gelitten wie in Schottland (62). Hingegen genießt er in weiten Teilen Englands hohe Zustimmung­swerte. Johnson propagiert eine Neuverhand­lung des Austrittsv­ertrages mit dem Ziel, die Notfalllös­ung für Nordirland, den sogenannte­n Backstop, zu verändern.

Wie reagiert die EU und was bedeutet das für den Brexit?

Eine Sprecherin von Angela Merkel sprach am Freitag von „Respekt“vor einer Politikeri­n, mit der die Bundeskanz­lerin gut zusammenge­arbeitet habe. Der scheidende EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker lobte May als „mutige Frau“. Es gab auch warnende Stimmen. Eine spanische Regierungs­sprecherin bezeichnet­e den Rücktritt als schlechte Nachricht, weil dieser den No Deal wahrschein­licher mache. Tatsächlic­h dürfte ein Entgegenko­mmen Brüssels entscheide­nd von der Position Irlands abhängen. Premiermin­ister Leo Varadkar hat stets am backstop festgehalt­en; anderersei­ts wäre aber der No Deal für die grüne Insel so verheerend wie für das Austrittsl­and selbst.

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FOTO: DPA Die britische Premiermin­isterin Theresa May kündigt ihren Rücktritt an – und verschwind­et in der Downing Street 10.

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