Warnungen überhört
Nach dem Relotius-Fälschungsfall geht der „Spiegel“hart mit sich ins Gericht
HAMBURG (epd/dpa) - Nach dem Relotius-Fälschungsfall geht der „Spiegel“hart mit sich ins Gericht. Der 17 Seiten umfassende Abschlussbericht wurde am Freitag beim Nachrichtenportal „Spiegel Online“veröffentlicht.
Die Aufklärungskommission im Fall Relotius hat schwere Vorwürfe gegen die damaligen Vorgesetzten des „Spiegel“-Reporters erhoben. Es habe „drei deutliche Warnungen vor Fälschungen in Relotius-Geschichten“gegeben. Sowohl der damalige Leiter des Gesellschaftsressorts, Matthias Geyer, als auch sein Vorgänger Ullrich Fichtner seien über die Vorwürfe gegen Relotius schon frühzeitig im Bilde gewesen.
Nachdem im Dezember bekannt geworden war, dass der damalige „Spiegel“-Redakteur Claas Relotius über mehrere Jahre hinweg Tatsachen verfälscht und Geschichten erfunden hat, hatte das Magazin die Aufarbeitung der Fälle angekündigt.
Auf die erste Warnung eines Lesers habe Geyer nicht reagiert, heißt es in dem Bericht. In der Geschichte hatte Relotius ungeprüft falsche Darstellungen aus britischen Zeitungen übernommen. Bei der zweiten Warnung sei nicht sicher, ob und wenn ja, welchen der Verantwortlichen in der Ressortleitung sie erreicht habe. Ein leitender Mitarbeiter von Spiegel TV, der Unstimmigkeiten in einer Reportage von Relotius entdeckt hatte, gab an, „so im Vorbeigehen“jemanden aus der Ressortleitung auf die Fehler angesprochen zu haben. Relotius erfuhr von den Zweifeln des Kollegen und klärte die Unstimmigkeiten selber auf.
Die dritte Warnung sei die des Kollegen Juan Moreno gewesen, dessen Recherchen letztendlich die Fälschungen Relotius’ offenlegten. Ungeachtet dieser Warnung habe das Gesellschaftsressort noch knapp zwei Wochen nach Eingang von Morenos ersten Indizien eine von Relotius in drei nicht unwichtigen Teilen gefälschte Titelgeschichte zum Thema Klimawandel veröffentlicht. „Dabei hätte Matthias Geyer da schon klar sein müssen, dass sie es bei Relotius möglicherweise mit einem Betrüger zu tun hatten“, schreibt die Kommission. Geyer habe sich zudem bei seinem Vorgänger und designierten Chefredakteur Ullrich Fichtner, der Relotius entdeckte, rückversichert. Dieser habe aber „keine Dringlichkeit“gesehen, zu handeln.
„Einzeltäter“-These
Die Kommission betonte zugleich, Relotius sei als „Einzeltäter“„in allererster Linie für sein Handeln verantwortlich“. Gleichzeitig identifizierte die Kommission fünf Faktoren, die „eine systematische Rolle“in dem Fall gespielt haben könnten. Dazu zählten zum einen die Reportage als für Fälschungen anfällige Stilform und der Druck im Gesellschaftsressort, Journalistenpreise zu gewinnen. Weitere Faktoren seien die Sonderrolle des Gesellschaftsressorts, das im Haus den Ruf habe, sich abzuschotten und eine nicht ausgeprägte Kritik- und Fehlerkultur. Außerdem habe es Fehler in der Dokumentation gegeben, die beim „Spiegel“die Texte auf Richtigkeit überprüft.
Als eine Konsequenz gab es Wechsel in Führungspositionen. Für den als Mitglied der Chefredaktion vorgesehenen Ullrich Fichtner, der nun unter anderem „große Projekte“vorantreiben soll, rückte Clemens Höges in die Führung auf. Der designierte Blattmacher Matthias Geyer gab die Leitung des Gesellschaftsressorts ab und ist nun für Textqualität zuständig. Fichtner und Geyer galten als Förderer von Relotius.
Der Ende Dezember 2018 gebildeten Kommission gehörten zunächst der Blattmacher des „Spiegel“, Clemens Höges, „Spiegel“-Nachrichtenchef Stefan Weigel sowie als externe Expertin die frühere Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“, Brigitte Fehrle, an. Höges rückte im April in die Chefredaktion des „Spiegel“auf und wirkte daher nicht mehr in der Kommission mit. Weigel und Fehrle setzten die Arbeit zu zweit fort.
Relotius hat im Jahr 2010 auf freier Basis auch für den dpa-Basisdienst drei längere Korrespondentenberichte aus Israel verfasst. Die Texte samt Fotos wurden in der dpa-Plattform gesperrt. Der dem Journalisten 2012 verliehene zweite Preis beim dpa-news-Talent-Wettbewerb wurde ihm inzwischen aberkannt.