Entsetzen über antisemitischen Angriff
Rechtsextremist will Massaker in Synagoge in Halle anrichten – Mehrere Tote und Verletzte
HALLE/SAALE (dpa/sz) - Ein mutmaßlicher Rechtsextremist hat versucht, in einer Synagoge in Halle an der Saale ein Massaker unter rund 80 Gläubigen anzurichten. Die jüdische Gemeinde entging an ihrem höchsten Feiertag Jom Kippur nur knapp einer Katastrophe. Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wollte nach Angaben aus Sicherheitskreisen am Mittwochmittag die Synagoge mit Waffengewalt stürmen, scheiterte jedoch. Danach soll der 27-jährige Deutsche vor der Synagoge und in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzt haben. Er floh vom Tatort und wurde am Nachmittag festgenommen. Die Tat löste weltweit Entsetzen aus.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte: „Der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur ist heute ein schwarzer Tag.“Der CSU-Politiker sprach am Abend von einem antisemitischen Motiv. Der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe zudem „ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach den Angehörigen der Opfer ihr tiefes Beileid aus. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte zur Tat: „Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land.“
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zeigte sich entsetzt. „Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock.“Zugleich erhob er schwere Vorwürfe gegen die Polizei. „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös. Wie durch ein Wunder ist nicht noch mehr Unheil geschehen.“Schuster fügte hinzu: „Zuallererst sind wir jedoch erschüttert, dass zwei Menschen von dem skrupellosen Täter umgebracht wurden. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt ihren Angehörigen.“Auch sorge er sich um die Verletzten und wünsche ihnen rasche Genesung.
Aus dem Ausland kamen ebenfalls bestürzte Reaktionen. Das Europaparlament legte eine Schweigeminute für die Opfer ein. In Gedanken sei man bei Deutschland, der deutschen Polizei und bei der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, sagte Parlamentspräsident David Sassoli. Auch UN-Generalsekretär António Guterres bewertete den Vorfall als „eine weitere tragische Demonstration von Antisemitismus“.
Die Stadt Halle hatte noch am frühen Nachmittag von einer „Amoklage“gesprochen. Zunächst war die Polizei davon ausgegangen, dass mehrere bewaffnete Täter mit einem Auto auf der Flucht seien. Der Bahnhof von Halle war wegen polizeilicher Ermittlungen gesperrt. Die Bundespolizei verstärkte ihre Kontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen. Grenzkontrollen wurden bundesweit verschärft, vor allem nach Polen und Tschechien, aber auch nach Österreich. So staute sich der Verkehr an der Grenze zu Österreich auch am Übergang Hörbranz. Erst am Abend erklärte die Polizei, dass sie von einem Einzeltäter ausgehe. Der Mann hat offenbar Videoaufnahmen von der Tat live ins Internet gestellt, auf denen er auch den Holocaust leugnet.
HALLE (dpa/AFP/KNA) - Der mutmaßliche Täter der Angriffe in Halle/Saale soll in den sozialen Netzwerken ein Bekennervideo hochgeladen haben. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschrank liegt. Die Aufnahmen stammen wohl von einer an einem Helm befestigten Kamera.
Zu Beginn des Videos ist zu sehen, wie der mutmaßliche Täter in Kampfanzug mit Waffen in einem Auto sitzt. Der Mann gibt in schlechtem Englisch extrem antisemitische Äußerungen von sich.
Bis zum Abend gab es keine Bestätigung der Behörden dafür, dass es sich bei dem Mann im Video um den Attentäter handelt. Zu sehen ist ein junger Mann mit kahlem Schädel in Kampfmontur. Er trägt ein weißes Halstuch. Ein solches Halstuch hatte auch der vermummte Täter getragen, der auf Aufnahmen von den Tatorten zu sehen war.
Das Video dokumentiert allem Anschein nach den Ablauf der Angriffe in Halle aus Sicht des Attentäters. Eine Version des Videos war auf der Streaming-Plattform Twitch zu sehen, wurde dort allerdings gleich wieder gelöscht.
Verschlossene Tür
In den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Filmende vergeblich versucht, in die Synagoge an der Humboldtstraße zu gelangen. Die Tür bleibt allerdings verschlossen. Daraufhin schießt der Täter auf der Straße einer Passantin mehrfach in den Rücken, die ihn zuvor angesprochen hatte. Die Frau bleibt leblos neben dem Fahrzeug des Täters liegen. Es ist auch zu sehen, wie der Mann in Kampfmontur auf der Straße auf einen Mann zielt, seine Waffe hat aber wohl Ladehemmung. Das Opfer, vermutlich ein Kurierfahrer, kann unverletzt entkommen. „Pech“, sagt die Stimme des Filmenden.
Der mutmaßliche Täter fährt danach mit einem Auto durch die Stadt. Er sagt immer wieder auf Englisch, dass er ein „Loser“(Verlierer) sei. Bei einem Döner-Imbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße („Kiez-Döner“) steigt der Mann aus, geht in den Laden und schießt mehrfach auf ein Opfer. Anschließend schießt der Mann – so zeigt es das Video – auf eine Polizeistreife, die sich ihm in den Weg stellt. Der Mann berichtet an seine mutmaßlichen Livestream-Zuschauer, dass er am Hals angeschossen worden sei.
Video ist 36 Minuten lang
Das insgesamt knapp 36 Minuten lange Video liegt dpa und der „Schwäbischen Zeitung“vor. Es hat den Anschein, dass der Täter während der Tat per Livestream mit Personen kommuniziert.
Das Vorgehen ähnelt dem Ablauf des Anschlags von Christchurch in Neuseeland. Bei dem Anschlag auf eine Moschee Mitte März waren 51 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden. Dem mutmaßlichen Täter droht lebenslange Gefängnishaft. Er hatte den Anschlag mit einer Helmkamera live auf Facebook übertragen. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat den Anschlag verurteilt. „Der Terroranschlag auf die Gemeinde in Halle an Jom Kippur ist ein neuer Ausdruck des wachsenden Antisemitismus in Europa“, schrieb er am Mittwoch im Kurzbotschaftendienst Twitter. Er fordere die deutschen Behörden auf, „weiterhin entschlossen“dagegen vorzugehen.
Netanjahus politischer Rivale, der Vorsitzende der Liste Blau-Weiß, Benny Gantz, rief ebenfalls zum verstärkten Kampf gegen Antisemitismus auf. „Das schreckliche Bild von Juden, die sich an Jom Kippur in ihrer Synagoge auf deutschem Boden verbarrikadieren, muss ein Weckruf sein“, sagte Gantz. „Antisemitismus muss mit aller Kraft bekämpft werden – das schließt die Verbreitung von Hassbotschaften im Internet ein.“
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, bestätigte, dass sich der Angriff der Täter direkt gegen die Synagoge richtete. „Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschießen“, sagte Privorozki. „Aber unsere Türen haben gehalten.“
Gäste aus USA
Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitsmus bestätigte nach einem Telefonat mit Privorozki, der maskierte Täter habe gegen die Tür geschossen, dabei aber nicht in die Synagoge eindringen können. Rund 20 Menschen seien am Nachmittag noch in der Synagoge verschanzt gewesen, darunter auch mehrere Gäste aus den USA. Laut Salomon wurden auch Flaschen mit Flüssigkeit geworfen. Eine habe die Sukka (Laubhütte), eine andere den Jüdischen Friedhof in unmittelbarer Nähe und eine den Hof der Synagoge getroffen. Nur die Flasche gegen den Friedhof habe sich entzündet.
Auch in Landsberg, rund 15 Kilometer östlich von Halle, gab es Schüsse. Ein Zusammenhang zu Halle war zunächst von den Behörden aber nicht bestätigt worden.
Papst Franziskus hat am Mittwoch der Opfer des Attentats auf die Synagoge von Halle gedacht. Zum Ende des dritten Arbeitstags der Bischofssynode im Vatikan am Mittwochnachmittag bete das Kirchenoberhaupt für die Opfer, wie das vatikanische Presseamt am Abend mitteilte.