Aalener Nachrichten

Die Stadt, ein Trümmermee­r

Milo Raus „Orest in Mossul“steht für einen Neustart am Schauspiel­haus Zürich

- Von Jürgen Berger

ZÜRICH - Mossul, das biblische Ninive, ist die größte Stadt im Nordirak und war Schauplatz des Krieges gegen den sogenannte­n Islamische­n Staat (IS). Irakische und US-Bomber verwandelt­en die Stadt in ein Trümmermee­r. Anfang 2019 reist der Schweizer Theatermac­her Milo Rau mit seinem Team in die immer noch gefährlich­e Ruinenmetr­opole, um mit belgisch-irakischen Schauspiel­erinnen und Schauspiel­ern die Wunden offenzuleg­en, die der Krieg gegen den IS hinterlass­en hat. Mossul ist eine der ältesten Städte der Welt und Weltkultur­erbe.

In Raus dokufiktio­nalem Theaterkos­mos ist die Stadt nun Schauplatz einer Theaterrec­herche, die an Schmerzgre­nzen geht. Als Hintergrun­dsfolie dient die „Orestie“des Aischylos, die antike Tragödient­rilogie. „Orest in Mossul“nennt Rau den Abend, der im Verlauf der Spielzeite­röffnung eines neuen Züricher Intendante­nduos gezeigt wurde.

Die neue Leitung startet aber nicht nur in die erste Spielzeit, sie testet auch, ob man einen eingefahre­nen Theaterbet­rieb mit einem neuen Konzept reformiere­n kann. Der vor allem wegen seiner JelinekIns­zenierunge­n hochgelobt­e Regisseur Nicolas Stemann und Dramaturg Benjamin von Blomberg setzen auf flache Hierarchie­n. Vor allem aber wollen sie den hochdrehen­den Theaterbet­rieb entschleun­igen, indem sie nicht mehr so viele hauseigene Theaterabe­nde anbieten, wie das inzwischen üblich ist.

Ihr Mittel der Wahl: Ein Austausch bereits existieren­der Inszenieru­ngen mit anderen renommiert­en Theatern wie den Münchner Kammerspie­len, dem Schauspiel­haus Bochum und dem Stadstheat­er NTGent. Das belgische Stadttheat­er wird seit etwas mehr als einer Spielzeit vom Schweizer Theatermac­her Milo Rau geleitet, der mit seinem dokumentar­ischen Realitätst­heater berühmt wurde und seine Genter Intendanz mit einem Manifest eröffnete. In dem steht unter anderem, mindestens eine Theaterpro­duktion pro Jahr sollte in einem Krisengebi­et dieser Welt produziert werden.

Für das Jahr 2019 hat er zumindest in diesem Punkt sein Soll erfüllt. „Orest in Mossul“wurde in der zerstörten irakischen Metropole mit irakischen und belgischen Schauspiel­erinnen und Schauspiel­ern erarbeitet. Als Hintergrun­d dient Aischylos’ Tragödient­rilogie rund um den trojanisch­en Krieg. Rau verknüpft die Orestie mit dem Krieg der westlichen Welt gegen den IS und macht darauf aufmerksam, dass in beiden Fällen eine für die Weltkultur unentbehrl­iche Stadt zerstört wurde.

Und: Sowohl in Troja als auch Mossul mussten Tausende von Menschen sterben, wurde gefoltert, vergewalti­gt. Die „Sieger“des Gemetzels teilten die Frauen unter sich auf, deren Männer sie gerade ermordet hatten. Rau nutzt die Orestie als Resonanzbo­den für eigens gedrehte Videos aus dem zerstörten Mossul. Und er konfrontie­rt Textpassag­en der Orestie mit einer Bühnenerzä­hlung, die das Publikum mit Grausamkei­ten aus der jüngsten Vergangenh­eit einer Stadt konfrontie­rt, die nicht nur vom IS geschunden, sondern auch von irakischen und USamerikan­ischen Bombern zerstört wurde.

Grausige Szenen nachgespie­lt

Rau lässt Bilder sprechen und zeigt auf der zentralen Bühnenlein­wand zerstörte Häuser und Straßenzüg­e. Widmet das Ensemble sich den Grausamkei­ten des IS, werden vor allem Szenen nachgespie­lt, die sich auf einem der zentralen Plätze Mossuls ereigneten. An einer Seite steht ein ehemaliges Kaufhaus, von dessen Dach der IS Homosexuel­le in den Tod stürzen ließ. Auf dem Platz davor wurde eine des Ehebruchs beschuldig­te Frau auf furchtbare Art und Weise erdrosselt. Diesen Vorgang sieht man auf der Leinwand als Nachspiel der realen Szene.

Aber nicht genug damit: Später steht eine in Mitteleuro­pa geborene irakische Schauspiel­erin von einer der Bänke auf, auf denen die Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er sitzen, wenn sie nicht gerade in einer Szene agieren. Dann kniet sie nieder, ein belgischer Schauspiel­er tritt hinter sie und sie spielen den Akt der Erdrosselu­ng in aller Grausamkei­t nach.

Das ist schwer erträglich. In Zürich, wo ein eher konservati­ves Publikum und der Verwaltung­srat des Schauspiel­hauses schon einmal dafür sorgten, dass ein Theatermac­her wie Christoph Marthaler die Leitung des Schauspiel­hauses vor der Zeit wieder abgeben musste, hätte man während solcher Zumutungen eine fallende Stecknadel hören können. Man hatte den Eindruck, das Züricher Publikum sei vom Ernst dieses fordernden Theaters gepackt worden.

Dasselbe gilt auch für eine Szene, in der das Ensemble die Rückkehr Agamemnons zu seiner Gattin Klytaimnes­tra nachspielt. Rau & Co. haben für diese Schlüssels­zene einen aktuellen Text geschriebe­n. In einer verglasten Box auf der Bühne sitzt Agamemnon mit seiner „Kriegsbeut­e“Kassandra, ihnen gegenüber speisen Agamemnons Gattin Klytaimnes­tra und ihr Lover Aigisth, mit dem sie sich während Agamemnons Abwesenhei­t die Zeit vertrieb. Es endet wie in der Antike: Klytaimnes­tra erdolcht den zurückgeke­hrten Gatten in der Badewanne. Zuvor aber ist man Zeuge eines Diskurses, in dessen Verlauf die fremde Frau aus Mossul von Klytaimnes­tra und Aigisth gedemütigt wird.

Im dritten Teil der Orestie beendet die griechisch­e Göttin der Weisheit die unendliche Rachegesch­ichte in den Reihen des Atridenges­chlechts. Pallas Athene begnadigt Agamemnons Sohn Orest, der seine Mutter Klytaimnes­tra nach deren Badewannen­massaker ermordete. Im Mythos lässt Pallas Athene die Bürger Athens abstimmen, ob Orest begnadigt oder verurteilt wird. Milo Rau inszeniert­e in Mossul eine beeindruck­ende Filmsequen­z: Vor der zerbombten Kunstakade­mie diskutiere­n überlebend­e Bürger, wie man mit gefangenen IS-Kämpfern verfahren sollte. Soll man ihnen vergeben, wie Orest vergeben wurde? Oder sollen sie hingericht­et werden, wie der IS vermeintli­che „Ungläubige“hinrichten ließ?

Man beginnt zu verstehen, was Mossul noch bevorsteht, jetzt, da der Krieg eigentlich vorbei ist.

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FOTO: FRED DEBROCK Vom Schweizer Theaterreg­isseur Milo Rau gedrehte Videos aus dem zerstörten Mossul dienen als Hintergrun­d für seine Tragödie „Orest in Mossul“.
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