Mahnende Worte vom Bodensee
Harte Kritik an Johnson und Erdogan beim BBF – Türkei droht der EU mit Grenzöffnung
FRIEDRICHSHAFEN - Das Attentat von Halle, die türkische Invasion in Nordsyrien, der anhaltende BrexitStreit – die aktuellen Themen verliehen dem 3. Bodensee Business Forum (BBF) der „Schwäbischen Zeitung“am Donnerstag in Friedrichshafen Brisanz. 60 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kirche und Politik diskutierten unter dem Motto „Vernetzen statt verzweifeln“leidenschaftlich über die Zukunft der Demokratie, sprachen über momentane Krisen und suchten nach neuen Wegen für Gesellschaft und Industrie.
In Sachen Türkei positionierten sich Claudia Roth (Grüne) und Volker Kauder (CDU) klar. Bundestagsvizepräsidentin Roth forderte die Nato angesichts der Militäroffensive gegen die Kurdenmilizen auf, die Mitgliedschaft der Türkei infrage zu stellen. „Wenn die Nato wieder nicht reagiert, wenn die Nato nicht die Mitgliedschaft infrage stellt, dann muss sie aufhören, vom Wertebündnis zu reden“, so Roth. Der Tuttlinger Kauder, ehemaliger Unionsfraktionschef, sagte: „Die Invasion der Türkei bedeutet eine moralische Verwilderung der Sitten.“
Erdogan drohte derweil der EU damit, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen, falls weitere Kritik geübt werde. „Hey EU, wach auf! Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte er in Ankara. Das türkische Militär nahm derweil mehrere Grenzorte unter Beschuss. Menschenrechtler berichteten, dass mehr als 60 000 Menschen auf der Flucht seien.
Günther Oettinger (CDU), scheidender EUKommissar, übte am Bodensee Kritik an Boris Johnson. Der britische Premier sei nicht ernsthaft an einem Brexit-Abkommen interessiert. „Er will Premierminister aufgrund eigener Wahl werden.“Alles andere sei ihm egal. Eigentlich gelte in der Politik: erst das Land, dann die Partei, dann die Person. „Bei ihm ist es genau umgekehrt“, sagte Oettinger. Hoffnung habe er aber noch immer. Wenn es tatsächlich stimme, dass Johnson und sein irischer Kollege Leo Varadkar – wie am Donnerstag in Liverpool verkündet – „einen Weg zu einem möglichen Deal sehen“, sei das „vielleicht ein Durchbruch“.
FRIEDRICHSHAFEN - Nein, es sind nicht gerade kleine Räder, die da beim 3. Bodensee Business Forum (BBF) im Friedrichshafener GrafZeppelin-Haus (GZH) gedreht werden. Das deutet schon der Untertitel „Was die Welt zusammenhält“an, ebenso die Begrüßungsrede von Schwäbisch Media Geschäftsführer Dr. Kurt Sabathil, der Zusammenhalt für den Frieden anmahnt. Vor dem Hintergrund eines türkischen Einmarschs in Syrien und dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle hat dieser Appell eine unangenehme Aktualität. Und auch Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“und wesentlicher Mitinitiator des BBF, macht in seiner kurzen Rede klar, dass ein Format wie das Bodensee Business Forum um solche aktuellen Ereignisse nicht herumkommt – und der Widerhall auf Podien und in Workshops natürlich logische Konsequenz ist.
Aber auch jenseits der aktuellen Tagespolitik gibt es viel zu besprechen. Mit einer gemütlichen Zusammenkunft von Menschen, die gerne schöne Worte machen, aber ansonsten wenig bewegen können, hat es nichts zu tun, wenn unternehmerische Kaliber wie Wolfgang Grupp von Trigema, ZF-Chef Wolf-Henning Scheider, Peter Sölkner von Vetter Pharma oder Harald Marquardt von der gleichnamigen Firmengruppe auf Einladung der „Schwäbischen Zeitung“zusammenkommen. Und bestimmt hätten Politiker wie EUKommissar Günther Oettinger (CDU), Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU), Sozialminister Manne Lucha und Claudia Roth (beide Grüne) selbst an so einem wechselhaften Oktoberdonnerstag Besseres zu tun, wenn sie nicht wüssten, dass es sich lohnt, an den Bodensee zu kommen. Erst recht der kroatische Außenminister Gordan Grlic Radman, der bereits am VorabendDinner des BBF teilgenommen hatte. Oder?
Da aber geht das Problem der Veranstaltung schon los: Denn es ist mehr als schwierig, in der Vielfalt der prominenten Köpfe keinen zu vergessen, was schade wäre. Denn so gut wie alle stehen für eine Sache, die in unserer Zeit hohe Dringlichkeit hat. Und deren Interessen und Überzeugungen im Rahmen des BBF durchaus kontrovers aufeinanderprallen. Als Beispiel für einen Mann mit einer Mission, der nicht wenigen wie ein Stachel im Fleisch sitzt, darf der Chef der deutschen Umwelthilfe, Jürgen Resch, gelten: Auf einer Konferenz in einer Region, deren wirtschaftliches Wohlergehen auch am Automobil und dem Verbrennungsmotor hängt, ist so eine Figur nicht eben ein Kandidat für kuschelige Kamingespräche. Trotzdem hat es Resch unversehrt ans Büfett geschafft, wo er freimütig über seine Rolle als Hassfigur in Teilen der Automobilindustrie spricht. Im Ausland wird er gerne als „Germany’s Diesel-Killer“tituliert: „Ich weiß, wofür ich das tue. Und ich bekomme viel Zuspruch, das gibt mir Kraft.“
Kurz zuvor hat er einmal mehr in einer Diskussion an der Seite der 17jährigen „Fridays for Future“-Aktivistin Lara Homes erklären müssen, dass eben auch Politik und Industrie geltendes Recht nicht einfach so unterlaufen dürften – was sie permanent täten. Unweit von Jürgen Resch lässt sich Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer in einer kleinen Pause Schnittchen schmecken. Was hält er von Resch – und kennen sich die beiden überhaupt? „An vielen Punkten stimme ich mit Herrn Resch überein. Etwa wenn es um die Durchsetzung des Rechts geht. An anderen aber auch nicht“, sagt der bekannte Verkehrswissenschaftler und beißt von seiner Butterbrezel ab. „Seine Forderung nach weniger Autos auf der Straße teile ich nicht.“Er habe eine Zeit lang, während er auf die Lieferung seines neuen Autos – übrigens ein SUV, das Modell T-Roc der Marke VW – gewartet habe, versucht, auf die Bahn umzusteigen. Ein zeitliches sowie finanzielles Fiasko, das keine Alternative zum Individualverkehr biete.
Während Dudenhöffer und Resch im Wesentlichen über eine Technik debattieren, die aus Sicht vieler Menschen bereits der Vergangenheit angehört, haben andere den Fuß schon in der Tür einer Zukunft, die noch gar nicht im Bewusstsein einer breiten Bevölkerung ist – obwohl sie lebensverändernd sein wird: die Zukunft der Fabriken und der Industrie.
Wie aktuell dieses Thema landauf, landab ist, zeigt sich exemplarisch an der Stadt Friedrichshafen: Gut zwei Wochen ist es her, dass rund 5000 Mitarbeiter des Automobilzulieferers ZF vor die Konzernzentrale zogen – sie hatten Angst um ihre Jobs. In anderen Firmen sind Stellenabbau und Standortschließungen nicht mehr nur Befürchtung, sie sind Realität. Nach einer langen Phase des Wirtschaftsaufschwungs, in denen ein Beschäftigungsrekord den nächsten jagte, geht die Konjunkturparty zu Ende. Wie lange die Krise dauert und wie schwer sie wird, ist noch nicht klar. Klar ist aber, dass sie die Industriearbeitsplätze in den europäischen Hochlohnländern gefährdet. Hinzu kommt die vierte industrielle Revolution: Die Digitalisierung, die Automatisierung und die Vernetzung von Maschinen ordnet Produktionsprozesse und -abläufe völlig neu. Jobprofile werden obsolet, andere neu geschaffen. Ob unter dem Strich ein Plus oder ein Minus an Arbeitsplätzen steht, ist offen.
Der einzelne Arbeitnehmer muss sich auf diese Veränderungen einstellen, sagt Professor Ottmar Schneck. Er beschäftigt sich mit den wandelnden Arbeitswelten. Doch wie kann man Menschen auf Jobs vorbereiten, von denen man noch gar nicht weiß, dass es sie einmal geben wird? „Indem die Bildung nicht mehr nur Wissen sondern Kompetenzen vermittelt“, sagt Schneck. Im aktuellen Wirtschaftsumfeld braucht es schneller wirkende Rezepte, um Industriearbeitsplätze – etwa in der Automobilbranche – zu halten. „Da haben auch die Gewerkschaften eine große Verantwortung“, sagt Harald Marquardt, Chef des gleichnamigen Automobilzulieferers aus Rietheim-Weilheim.
Noch basiert unser Gemeinwesen auf der klassischen Erwerbsarbeit. „Arbeit integriert, verbindet und wird nicht nur einfach als Mühsal begriffen“, sagt Eva King, verantwortlich für die Grundlagenarbeit der Arbeitskammer Vorarlberg. Doch ob das in Zukunft noch so sein wird, ist unter Experten umstritten. Vielleicht machen die neuen Arbeitswelten, in denen für die Wertschöpfung immer weniger Menschen gebraucht werden, auch ein bedingungsloses Grundeinkommen nötig. Oder eine Robotersteuer, wenn vollautomatisierte Fabriken die Arbeitswelt dominieren.
Und wie passt Lara Homes mit ihren 17 Jahren in dieses Ballett der Großen und Einflussreichen? Sie steht als unbequeme Vertreterin der „Fridays for Future“-Bewegung der Mehrheit beim BBF kritisch gegenüber, weil sie die Konzepte der im Wesentlichen 40 Jahre älteren Männer, die hier den Ton angeben, auf ihre klimapolitische Zukunftstauglichkeit abklopft. Ein Unterfangen, bei dem naturgemäß nicht alle besonders gut wegkommen. Und deshalb wegzukommen versuchen, bevor die junge Frau ihnen unangenehme Fragen stellen kann. Nach einer Podiumsdiskussion steht sie etwas ernüchtert am Stand der Klimaschützer – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rolls-Royce: „Bei der Diskussion hat die Moderatorin noch dafür gesorgt, dass ich auch zu Wort komme.“Danach, im Gespräch mit einem Politiker, habe man sie aber schon nicht mehr ausreden lassen. Womit ihr Fazit lautet, dass sie und ihre Altersgruppe von bestimmten Leuten noch immer nicht ernst genommen würden. Das ist zwar nicht der einzige Konflikt unserer Zeit, den die Erfahrung von Lara Homes auf dem BBF illustriert. Aber es reden auf dieser Veranstaltung Menschen miteinander, die sich sonst nicht begegnen. „Ich nehme der Industrie ihre Bemühungen voll und ganz ab, Teil der Lösung sein zu wollen. Die Wirtschaft ist da weiter als so mancher Wirtschaftsminister“, sagt eine bestens gelaunte Claudia Roth (Grüne), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Auf die Frage, ob das vor 20 Jahren denkbar gewesen wäre, dass neben einem Stand von Rolls-Royce Umweltaktivisten ihren Tresen aufstellen, sagt Claudia Roth: „Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, weil man mich vor 20 Jahren zu einer solchen Veranstaltung gar nicht eingeladen hätte.“
Und während in den einzelnen Sälen des Graf-Zeppelin-Hauses um zentrale Zukunftsfragen gerungen und diskutiert wird, Klimaschützer mit politisch Verantwortlichen streiten, donnert plötzlich ohrenbetäubender Lärm direkt vor den Glastüren. Der Wind von Rotorblättern wühlt das Bodenseewasser und die Menschen auf, die hinauseilen, um den schwarzen Hubschrauber von Trigema-Chef Wolfgang Grupp einschweben zu sehen. „Hallo Fans“steht auf dem Heli neben dem Konterfei des bebrillten Affen zu lesen. Wie aus dem Ei gepellt gleitet der 77Jährige aus seinem Fluggerät, kerzengerade und tausendfach fotografiert, marschiert er ins GZH, während sich die Abgaswolke langsam verflüchtigt. ZF-Chef Wolf-Henning Scheider war indes mit einem Elektro-Hybrid herbeigeschnurrt. Auch an diesen beiden Arten der Fortbewegung lässt sich das große Spannungsfeld erkennen, in dem die Tagungsteilnehmer ihre Positionen vertreten.
Der ehemalige Fraktionschef von CDU/CSU im Bundestag, Volker Kauder, sieht ebenfalls viel zeitpolitischen Redebedarf – und lobt das BBF als gutes Format, bei dem Politiker aus Bund und Land zusammenkämen. Doch der Horizont reicht noch ein Stück weiter – etwas mit EU-Kommissar Günther Oettinger, der aus Brüssel anreist. Geistliche Vertreter – etwa in Gestalt von Pater Nikodemus Schnabel und Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza – stellen die Gretchenfrage, wie tolerant Weltreligionen sind. Und ganz nebenbei wird auch noch feierlich der zehnte Gründerpreis der „Schwäbischen Zeitung“verliehen – an Wimedical aus Singen.
Kurzum: Wirklich viel los auf einer Veranstaltung, die seit ihrer Premiere vor drei Jahren stetig gewachsen ist – und über die Friedrichshafens Oberbürgermeister Andreas Brand in seiner Eröffnungsrede spekulierte, ob sie künftig noch im GrafZeppelin-Haus genug Platz finden werde. Für eine Veranstaltung, die thematisch nie allein an regionalen Fragen interessiert war. Und vielleicht gerade darum über sich hinauswachsen konnte. Denn im Herzen Europas ist Baden-Württemberg zwangsläufig auch ein Zentrum der globalisierten Welt. Mit all den Menschen, die sich auf dem BBF vielleicht nicht einig werden, ob es in Zukunft klüger ist, mit dem E-Auto oder dem Helikopter anzureisen. Die aber bereit sind, darüber zu diskutieren. Gerade mit Leuten, die anderer Meinung sind – was im Hier und Heute keinen geringen Wert darstellt.