Aalener Nachrichten

Auf den Einmarsch folgt die politische Eskalation

Türkischer Präsident Erdogan droht Kritikern mit Aufkündigu­ng des Flüchtling­spakts

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Recep Tayyip Erdogan fühlt sich in seinem Weltbild bestätigt: Die Türkei tut das Richtige, doch der Rest der Welt – und besonders der Westen – verleumdet das Land als Aggressor. Keine 24 Stunden nach Beginn der jüngsten Syrien-Interventi­on seiner Armee teilte Erdogan am Donnerstag an seine Kritiker aus. Saudi-Arabien habe den Krieg im Jemen zu verantwort­en und solle deshalb schweigen, der ägyptische Staatschef Abdal Fatah as-Sisi sei ein „Mörder“. Ganz besonders wütend ist Erdogan auf die Europäer, die den Einmarsch nach Syrien scharf kritisiere­n: „Wenn das so ist, dann ist ja alles ganz einfach: Wir öffnen die Tore“– um Millionen syrische Flüchtling­e nach Europa zu schicken.

Erdogan und seine Regierung betrachten den Feldzug gegen die syrische Kurdenmili­z YPG als notwendige­n Einsatz gegen eine Terrorgrup­pe. Zudem will die Türkei in NordSyrien eine „Sicherheit­szone“schaffen, um syrische Flüchtling­e dort anzusiedel­n. Nach der Vorbereitu­ng durch Luftangrif­fe und Artillerie­beschuss am Vortag rückten in der Nacht zum Donnerstag erstmals türkische Bodentrupp­en und ankaratreu­e syrische Rebellenve­rbände über die Grenze.

Laut türkischen Angaben nahmen die Angreifer mehrere Dörfer auf der syrischen Seite der Grenze ein und vertrieben die YPG, den syrischen Ableger der Terrorgrup­pe PKK. An einigen Stellen seien YPGKämpfer geflohen. Der Vormarsch laufe planmäßig, teilte das türkische Verteidigu­ngsministe­rium mit. Nach Erdogans Worten wurden in den ersten 24 Stunden des Krieges mehr als 100 YPG-Kämpfer getötet.

Die Kurdenmili­z berichtete dagegen, ihre Truppen hätten türkische Angriffe zurückgesc­hlagen. Die YPG-Kämpfer waren in den vergangene­n Jahren von den USA für den Kampf gegen den „Islamische­n Staat“ausgebilde­t und ausgerüste­t worden. Sie sind der hochgerüst­eten türkischen Armee zwar klar unterlegen, aber in der Lage, den Angreifern den Vormarsch zu erschweren.

Auch Zivilisten kamen bei den Kämpfen ums Leben. Kurdische Geschosse aus Syrien schlugen am Donnerstag in mehreren türkischen Grenzstädt­en ein und töteten vier Menschen, darunter ein neun Monate altes syrisches Flüchtling­skind, wie die Behörden mitteilten. Insgesamt wurden 70 Menschen verletzt. Laut der YPG starben auf der syrischen Seite der Grenze ebenfalls mindestens vier Menschen durch türkischen Beschuss, Präsident Recep Tayyip Erdogan darunter ein zehnjährig­es Kind. Tausende Bewohner des YPGGebiete­s fliehen.

Gleichzeit­ig wurden Vorwürfe laut, die türkische Interventi­on stärke den „Islamische­n Staat“in Syrien, der bisher von der YPG mit Unterstütz­ung von US-Truppen in Schach gehalten worden war. Die amerikanis­chen Soldaten hatten sich auf Befehl von Präsident Donald Trump aus dem Kampfgebie­t zurückgezo­gen; die YPG erklärte daraufhin, sie ziehe ihre Kämpfer aus dem Kampf gegen den „Islamische­n Staat“zurück, um sie in Gefechten gegen die anrückende­n Türken aufzubiete­n.

Der US-Sender CNN zitierte einen namentlich nicht genannten Regierungs­vertreter in Washington mit den Worten, die türkische Interventi­on schade schon jetzt den Bemühungen, die Extremiste­n vom „Islamische­n Staat“unter Kontrolle zu halten. „Wir schauen jetzt dabei zu, wie die zweitgrößt­e Armee der Nato unseren besten Verbündete­n im Anti-Terrorkamp­f angreift.“

Erdogan wies jede Kritik an dem Feldzug zurück. Besonders verärgert reagierte der türkische Präsident auf die Kritik aus Europa. „Hey, Europäisch­e Union, komm mal zu dir“, sagte er. Erdogan bekräftigt­e den Vorwurf, die EU habe ihre finanziell­en Zusagen aus dem Flüchtling­sabkommen zwischen Ankara und Brüssel nicht eingehalte­n. „Wir öffnen die Tore, nur damit ihr das wisst“, sagte er.

Ob es sich um einen Wutausbruc­h handelte oder um eine echte Drohung, blieb zunächst offen. Der türkische Präsident hatte bereits vor Wochen erklärt, sein Land könne zusätzlich zu den bereits aufgenomme­nen 3,6 Millionen syrischen Flüchtling­en keine weiteren Syrer mehr aufnehmen und müsse die Menschen deshalb möglicherw­eise nach Europa durchwinke­n. Gleichzeit­ig erklärte Erdogans Regierung damals jedoch, die Türkei habe kein Interesse an einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens. Der Vertrag verpflicht­et Ankara dazu, Flüchtling­e an der Überfahrt zu hindern.

Auch innenpolit­isch will Erdogan keine Einwände gegen den SyrienEins­atz gelten lassen. Zwei leitende Redakteure von Opposition­smedien wurden festgenomm­en – offenbar wegen ihrer kritischen Berichters­tattung. Insgesamt leiteten die Behörden fast 80 Ermittlung­sverfahren gegen Verdächtig­e ein, die „feindliche Propaganda“verbreitet hätten.

„Wir öffnen die Tore, nur damit ihr das wisst.“

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Das Brüllen des Tigers.
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FOTO: DPA Von der Türkei unterstütz­te Kämpfer der Freien Syrischen Armee sind auf dem Weg in die syrische Stadt Tall Abyad.
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FOTO:AFP Viorica Dancila

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