Aalener Nachrichten

Greenpeace-Chef Kaiser freut sich über Thunberg

Greenpeace-Geschäftsf­ührer Martin Kaiser erklärt, welche Folgen die Klimapolit­ik der vergangene­n Jahrzehnte hat

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BERLIN/RAVENSBURG (clak) - Seit mehr als zwei Jahrzehnte­n beschäftig­t sich Martin Kaiser intensiv mit dem Klimawande­l. Inzwischen ist der Geoökologe und Forstingen­ieur einer von zwei Geschäftsf­ührern bei Greenpeace Deutschlan­d. Im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“wirft er der Bundesregi­erung vor, viel zu wenig für den Klimaschut­z zu tun: „Unsere Politik ist nach wie vor klimaschäd­lich.“Dass die schwedisch­e Schülerin Greta Thunberg das Thema zu einem Massenphän­omen gemacht hat, freut Kaiser: „Über Greta hat die Jugend eine Stimme bekommen.“

BERLIN - Vor 25 Jahren warnte Martin Kaiser, damals ein junger Geoökologe und Forstingen­ieur, bei den Weihenstep­haner Forsttagen in Freising davor, dass die Erderwärmu­ng „großflächi­ge Zusammenbr­üche von Waldökosys­temen zur Folge haben“werde. Inzwischen ist Martin Kaiser einer der beiden Geschäftsf­ührer bei Greenpeace Deutschlan­d – und das Thema Waldschäde­n beschäftig­t ihn noch immer. „Es wurde tatsächlic­h wenig unternomme­n, um den Wald zu stabilisie­ren und besser aufzustell­en“, sagt er im Interview mit Claudia Kling. Der Bundesregi­erung wirft er vor, viel zu wenig für den Klimaschut­z zu tun „Unsere Politik ist nach wie vor klimaschäd­lich“, sagt Kaiser.

Herr Kaiser, Sie engagieren sich seit 30 Jahren für den Klimaschut­z. Sind Sie ein wenig neidisch auf Greta Thunberg, die das Thema innerhalb eines Jahres so prominent besetzt hat wie keiner zuvor?

Überhaupt nicht. Es ist das Beste, was passieren konnte. Über Greta hat die Jugend eine Stimme bekommen in der Debatte. Das hat es in den vergangene­n 30 Jahren so nicht gegeben. Zudem verstärkt Greta die Aufmerksam­keit für die Klimakrise: Mit ihrem Schulstrei­k hat sie eine Welle losgetrete­n, die es zuvor nicht gab. Darüber freuen wir uns riesig.

Warum gelingt es Greta Thunberg sehr viel mehr als Ihnen, Aufmerksam­keit für das Thema Klima schutz zu schaffen?

Die neue Qualität ist, dass Jugendlich­e, die sich mit Gretas Engagement identifizi­eren, das Thema Klimaschut­z mitten in die Familien hineingetr­agen haben. Damit haben sie einen ganz neuen Diskussion­sprozess gestartet. Eltern interessie­ren sich ja meistens dafür, was ihre Kinder bewegt und hinterfrag­en dann womöglich ihr Konsumverh­alten. Dazu kommt: Die Menschen spüren inzwischen selbst, dass sich das Klima verändert. Deshalb verfängt die Kritik der Jugend in diesem Ausmaß.

Greta Thunberg hat dazu aufgerufen, mit Panik auf die Klimaverän­derungen zu reagieren. Wie hoch ist Ihr persönlich­es Paniklevel?

Ich bin nicht panisch, aber stark besorgt. Die Geschwindi­gkeit, mit der sich die Folgen der Erderwärmu­ng zeigen, ist enorm. Beispielsw­eise tauen die Permafrost­böden in einem Ausmaß auf, wie es erst für 70 Jahre später prognostiz­iert war. Das Abschmelze­n von Grönland erfolgt in einem Tempo, das so nicht absehbar war. Auch die schnell wachsende Heftigkeit der Trockenper­ioden mit den entspreche­nden Auswirkung­en auf Ernten, Wälder und das Grundwasse­r hat mich überrascht.

Haben Wissenscha­ftler unterschät­zt, welche Auswirkung­en die wirtschaft­liche Entwicklun­g von Ländern wie China hat?

Was unterschät­zt wurde, sind die Rückkopplu­ngseffekte der Emissionen aus der Verbrennun­g von Kohle, Öl und Gas, aber auch infolge der Entwaldung und der Erwärmung der Ozeane. Rückkopplu­ng bedeutet, dass diese Effekte sich gegenseiti­g verstärken. Nehmen Sie die Waldbrände: Wenn sich schwarze Partikel auf Schnee und Eis in der Arktis ablagern, taut das Eis unter Sonneneins­trahlung noch viel schneller auf. Durch die rasante Erwärmung der Arktis – dort sprechen wir bereits von drei, vier Grad – sind die Jetstreams, die Hochwinde von West nach Ost, durcheinan­dergebrach­t worden. Deshalb bewegen sich bei uns Wetterlage­n oft über Wochen nicht mehr. Ein anderes Beispiel: Mit jedem Zehntel Grad Erwärmung geht mehr Wasserdamp­f in die Atmosphäre. Das hat zur Folge, dass Stürme heftiger werden und mehr Regen nach sich ziehen.

Wir haben uns im Jahr 1994 schon einmal über den Klimawande­l unterhalte­n. Was wurde in den vergangene­n 25 Jahren unternomme­n, um die Erderwärmu­ng zu bremsen?

In den ersten zehn Jahren hat sich fast nichts bewegt. Da gab es nur internatio­nale Klimadiplo­matie wie beispielsw­eise das Kyotoproto­koll ohne konkrete Folgen. Auch der Emissionsh­andel in Europa ist zehn Jahre lang nicht richtig angelaufen. Es gibt nur eine Erfolgsges­chichte: den Ausbau der erneuerbar­en Energien. Mittlerwei­le sind die Produktion­skosten erneuerbar­er Energien sehr viel günstiger als jedes Kohleund Atomkraftw­erk. Im Jahr 2008 hat man in Deutschlan­d für verschiede­ne Bereiche wie Verkehr, Kohle und Landwirtsc­haft CO2-Reduktions­ziele definiert, aber die werden nicht eingehalte­n. Sobald es um die Interessen der Wirtschaft, vor allem der Autobranch­e ging, hat Kanzlerin Angela Merkel einen Rückzieher gemacht. Erst beim Klimagipfe­l in Paris war der Druck jener Länder, die den Klimawande­l bereits massiv spüren, groß genug, um ein gemeinsame­s, globales Ziel zu definieren.

Vor Kurzem wurde in Berlin ein Klimapaket auf den Weg gebracht. Reicht das, um das Pariser Abkommen einzuhalte­n?

Unsere Politik ist nach wie vor klimaschäd­lich. Sie folgt dem Mechanismu­s, mehr Wirtschaft­swachstum anzustrebe­n, um mehr Beschäftig­ung und Staatseinn­ahmen zu haben. Doch mit der Physik der Atmosphäre lässt sich nicht verhandeln. Es darf nur noch eine bestimmte Menge an Treibhausg­asen in die Atmosphäre entweichen, wenn wir unter 1,5 Grad Erderwärmu­ng bleiben wollen. Bislang war es nicht wahlentsch­eidend, eine klimafreun­dliche Politik zu machen. Das hat sich aber infolge der Dürresomme­r, des Streits um den Hambacher Wald und natürlich wegen der „Fridays for Future“-Bewegung extrem verändert.

Wie stark hat sich die Erde seit 1994 erwärmt. Wie viele Waldfläche­n sind vernichtet worden, wie viele Tierarten ausgestorb­en?

In den letzten 25 Jahren hat sich die globale Durchschni­ttstempera­tur um circa ein halbes Grad Celsius erhöht, über den Landfläche­n der Erde sogar noch stärker. Etwa 2,5 bis drei Millionen Quadratkil­ometer Wald wurden vernichtet – das entspricht etwa sieben Prozent der globalen Waldfläche. Ein Teil wurde wieder aufgeforst­et, aber diese Baumplanta­gen haben mit den zerstörten Naturwälde­rn nichts mehr gemein. Sie speichern viel weniger CO2 als Urwälder, sind viel anfälliger, können der Klimakrise nicht standhalte­n. Ausgestorb­ene Tierarten seit 1994 lassen sich nicht genau beziffern. Alarmieren­d ist jedoch, dass weltweit jede achte der schätzungs­weise rund acht Millionen Tier- und Pflanzenar­ten vom Aussterben bedroht ist. Das sind rund eine Million Tierund Pflanzenar­ten, die es nicht überleben würden, wenn die Menschheit weitermach­t wie bisher.

Klimaschüt­zern wird oft vorgeworfe­n, anderen Menschen ihre Lebensweis­e vorschreib­en zu wollen. Welche Ge- und Verbote haben Sie sich selbst auferlegt? Fliegen Sie, essen Sie Fleisch, haben Sie ein Auto?

Ein eigenes Auto hatte ich nur zwei Jahre lang. Ich fahre viel Fahrrad, und wenn ich etwas transporti­eren muss, nutze ich Carsharing. Privat bin ich in meinem Leben zweimal geflogen, beruflich allerdings sehr oft. Das konnten wir aber stark reduzieren, mittels Videokonfe­renzen. Und wenn wir fliegen, machen wir einen CO2-Ausgleich. Ich esse fast kein Fleisch, vielleicht einmal im Monat, und wenn, dann Biofleisch. Als Sportler möchte ich noch nicht komplett darauf verzichten, auch wenn es wirklich gute vegetarisc­he und vegane Küche gibt.

Reicht es aus, in der Klimapolit­ik weiterhin auf die Einsicht der Bürger zu setzen – oder braucht es doch mehr Verbote?

Auch der Straßenver­kehr würde nicht funktionie­ren, wenn wir keine Gebote und Verbote hätten. Deshalb ärgern mich diese Unkenrufe aus der Politik, vor allem von der CDU und FDP, gegen Verbote in der Klimapolit­ik. Das führt zu nichts. Die Geschwindi­gkeit der Veränderun­gen bekommen wir mit Anreizen und sozialer Marktwirts­chaft nicht mehr in den Griff. Das ist ein Mythos, der von denjenigen verbreitet wird, die keine Veränderun­g wollen. Wir brauchen einen guten Mix von gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen, mit anderen Worten Verboten, Anreizsyst­emen und natürlich ein klimagerec­htes Steuersyst­em, das wir im Moment noch überhaupt nicht haben.

In ländlichen Regionen haben schon jetzt viele Menschen das Gefühl, die Gelackmeie­rten zu sein, weil sie bei bestem Willen nicht auf den öffentlich­en Nahverkehr umsteigen können. Künftig sollen sie auch noch mehr für Mobilität bezahlen. Verstehen Sie deren Ärger?

Um das zu verhindern, müssen wir unterschie­dliche Mobilitäts­konzepte für den städtische­n und ländlichen Raum entwickeln. Bislang sind die Mittel aus dem Bundesverk­ehrswegepl­an hauptsächl­ich in den Straßenbau geflossen, das kann so nicht bleiben. Alte Bahnstreck­en müssten reaktivier­t werden, die Nutzung von E-Bikes oder E-Rollern für die letzten Meter bis zum Ziel attraktiv gestaltet werden. Denn auch das ist klar: Wenn wir wollen, dass die Jugend von heute künftig die gleichen Lebensbedi­ngungen hat wie wir, dann müssen wir unseren Lebensstil verändern. Das heißt beispielsw­eise für Nichtstädt­er, von einem schnellen Auto auf ein weniger schnelles, aber leichteres umzusteige­n oder den öffentlich­en Personenve­rkehr zu nutzen. Das mag für manche eine unschöne Vorstellun­g sein, aber dazu gibt es keine Alternativ­e.

Ein anderes Herzensthe­ma der Deutschen ist der Wald. Sie haben 1994 gesagt, dass der Wald einen schnellen Temperatur­anstieg nicht verkraften wird. Hat Ihnen niemand zugehört?

Es wurde tatsächlic­h wenig unternomme­n, um den Wald zu stabilisie­ren und besser aufzustell­en. Katalysato­ren und Entschwefe­lungsanlag­en von Kraftwerke­n haben zwar seit den 1980er-Jahren dazu beigetrage­n, die Entnadelun­g von Fichten und Tannen zu stoppen. Doch nun leidet der Wald unter Stickstoff­verbindung­en aus Verkehr und Landwirtsc­haft. Am schlimmste­n ist jedoch die intensive Bewirtscha­ftung der Wälder. Da werden mit großen Maschinen, sogenannte­n Harvestern, Baumstämme aus dem Wald geholt, alle 15 Meter Schneisen reingehaue­n und gleichzeit­ig der Boden extrem verdichtet. Es wurden junge Wälder geschaffen, oftmals Baumplanta­gen, die sehr anfällig sind für Hitze und Dürre. Diese Entwicklun­gen haben den Wald wortwörtli­ch gefällt.

Nach Orkanen wie „Wiebke“und „Kyrill“hieß es: weg von der Fichten-Monokultur hin zum Mischwald. Was ist aus diesem Vorhaben geworden?

Wenig, der Waldumbau wurde aus kurzfristi­gem wirtschaft­lichem Interesse nicht konsequent vorangetri­eben. Es wurde zwar durchaus Geld in die Hand genommen, um nach den Stürmen wieder aufzuforst­en, auch mit Laubbäumen. In der Praxis hat sich dann oft die natürlich angeflogen­e, schnell wachsende Fichte durchgeset­zt, weil die entspreche­nde Pflege gefehlt hat. Aber inzwischen sind ja sogar Buchenwäld­er krank, weil in den vergangene­n Jahren zu viel Holz entnommen wurde. Wenn der Baumbestan­d zu licht wird, bekommen die Bäume bei extremer Sonnenstra­hlung und Hitze eine Art Sonnenbran­d. Ihnen platzt die Rinde auf und sie vertrockne­n. In einem geschlosse­nen Laubwald könnte das nicht passieren, weil unter dem Kronendach die Temperatur sehr viel niedriger ist. Sie sehen, es gibt viele Faktoren, unter denen der Wald leidet – und jetzt kommen noch Dürreperio­den, trockene Böden und extreme Hitzetage hinzu.

In den 80er-Jahren wurde auch bereits das Ende des deutschen Waldes verkündet. Aber so dramatisch ist es dann ja nicht gekommen. Wird es dieses Mal ähnlich sein?

Wir sehen gerade die Spitze des Eisbergs. Ich war im Sommer viel mit Försterinn­en und Förstern unterwegs, und die sagen, was jetzt passiert, ist erst der Anfang. Im vergangene­n Jahr sind in Deutschlan­d rund 180 000 Hektar Wald durch Dürreund Sturmschäd­en verloren gegangen. Selbst wenn wieder aufgeforst­et wird, ist das keine Garantie, dass der Wald überleben wird – auch wegen der rasanten Vermehrung der Borkenkäfe­r. Ganze Landstrich­e, die jetzt von Fichten geprägt sind, werden absterben. Das heißt nicht, dass künftig kein Wald mehr da sein wird, aber die Landschaft wird eine andere sein, als wir sie kennen.

Hat nicht auch übertriebe­ner Naturschut­z dazu beigetrage­n, dass sich die Borkenkäfe­r so rasant vermehren konnten?

Das ist völliger Unsinn, das Gegenteil ist richtig. Die naturnahen Wälder haben kaum Borkenkäfe­rbefall, weil sich gesunde Bäume aus eigener Kraft mit der Hilfe von Harz gegen die Einnistung von Borkenkäfe­rn wehren können. Aber wir haben den Wald seit Jahrzehnte­n geschwächt, indem wir ihn als reine Holzproduk­tionsstätt­en behandelt haben. Immerhin: Es gibt Signale des Umdenkens. Selbst der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder hat verkündet, dass sein staatliche­r Forstbetri­eb künftig kein Geld mehr für den Haushalt abliefern muss. Stattdesse­n sollen neue Bäume gepflanzt werden, um den Wald als Klimaschut­zwald zu erhalten. Das ist wirklich interessan­t, denn bislang waren die Bayerische­n Staatsfors­ten die Schlimmste­n in der Forstwirts­chaft.

Umweltorga­nisationen arbeiten, um Aufmerksam­keit zu erzielen, oft mit Worst-Case-Szenarien. Mal andersrum: Wie sieht Ihr Best-CaseSzenar­io für den Klimawande­l aus?

Das Beste, was wir erreichen könnten wäre, unser CO2-Budget nicht zu überziehen. Damit wäre aber eine radikale Transforma­tion unserer Gesellscha­ft verbunden, unser Lebensstil würde sich drastisch verändern. Best Case wäre auch, die globale Erderwärmu­ng unter 1,5 Grad zu halten, indem wir gemeinsam mit den anderen Europäern, auch mit China und den USA – nach Donald Trump – das Ruder herumreiße­n. Wir müssten so schnell wie möglich aus der Verbrennun­g fossiler Energien aussteigen. Diesen Mut sollten die großen Industrien­ationen aufbringen, damit unsere Kinder eine Chance auf eine gute Zukunft haben.

 ?? FOTO: DANIEL MÜLLER/GREENPEACE ?? Gipfelerfa­hren: Martin Kaiser war bei den großen Klimakonfe­renzen vor Ort. Seit 1998 arbeitet er für Greenpeace Deutschlan­d, seit 2016 gehört er zur Geschäftsf­ührung.
FOTO: DANIEL MÜLLER/GREENPEACE Gipfelerfa­hren: Martin Kaiser war bei den großen Klimakonfe­renzen vor Ort. Seit 1998 arbeitet er für Greenpeace Deutschlan­d, seit 2016 gehört er zur Geschäftsf­ührung.

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