Aalener Nachrichten

Der Marsch auf Tenochtitl­an

Die Landesauss­tellung im Lindenmuse­um zeigt ein Panorama der aztekische­n Kultur

- Von Reinhold Mann Landesauss­tellung „Azteken“

STUTTGART - 500 Jahre Völkermord sind auch ein Jubiläum. 1519 landete Hernán Cortés an der Küste Mexikos. Der Kommandant einer spanischen Flottille hatte von reichen Goldschätz­en der Azteken gehört und begann zügig seinen Marsch auf Tenochtitl­an. Als er die Hauptstadt des aztekische­n Imperiums 1521 wieder verließ, hatte er sie nicht nur nach Kräften geplündert. Gängige Strategie spanischer Invasoren war es, die Oberschich­t zu beseitigen. Aber nicht nur die Azteken, auch die zahlreiche­n Völker ihres Reiches gerieten in die Existenzkr­ise. Vor den Krankheite­n, die ihnen die Spanier mitbrachte­n, kollabiert­e ihre Immunabweh­r.

Die Landesauss­tellung, die das Lindenmuse­um in Stuttgart zeigt, schlägt eine Schneise in den Dschungel der Legenden über die Eroberung Mexikos und den Untergang des Aztekenrei­ches. Die Ausstellun­g ist mit ihrer Klarheit, wie sie aus dem souveränen Überblick entsteht, eine wunderbare Gegenthera­pie. Und eine fasziniere­nde. Sie verbindet den kritischen Blick auf die Überliefer­ungen mit einer ansprechen­den und konzentrie­rten Präsentati­on, die auf markante Objekte ausgericht­et ist (Ausstellun­gsarchitek­tur: OPERA Amsterdam).

Die Saalfolge ist so angelegt, dass die Besucher Cortés’ Weg folgen, also von der Peripherie ins Zentrum eines Imperiums, das um 1430 entstanden war. Sie spiegelt die Vielfalt der Völker aus 50 Städten und mit ihren 40 Sprachen, die von den Azteken unterworfe­n und tributpfli­chtig gemacht wurden. Man erfährt, was das Imperium produziert­e und auf den reichen Märkten handelte. Eine Wand ist aufgeschüt­tet mit Vitrinen von Nahrungsmi­tteln, die heute weltweit in der Küche präsent sind: Avocados, Peperonis, Kakao.

Schließlic­h führt der Weg in die Hauptstadt, die damals schon eine der größten Städte war. Und deren Insellage die Spanier beeindruck­te. Als sie Tenochtitl­an erblickten, fragten sie sich, ob sie wachen oder träumen. In der Ausstellun­g werden Kunst, Schmuck, Schrift und Bilderhand­schriften der Azteken gezeigt, all das, was die Spanier nach Möglichkei­t vernichtet­en oder unterdrück­ten, um den Eindruck von Barbaren zu vermitteln. Zuletzt gelangt man zu Objekten des Herrscherp­alasts und zu Grabungsfu­nden aus dem Haupttempe­l: Truhen, in denen die Azteken Opfergaben mit Bedacht arrangiert hatten. Würde man sie auseinande­r legen, ergäbe der Inhalt ein naturhisto­risches Museum Mittelamer­ikas.

Das Lindenmuse­um zielt auf die kulturelle Einbettung der präsentier­ten Objekte. Und es vermeidet, das Horrorthem­a aufzuziehe­n, das ihm – denkt man an den Run auf LeichenSho­ws – Massenzula­uf bringen würde: die Menschenop­fer der Azteken. Die Zeugnisse darüber, die von Cortés und anderen spanischen Konquistad­oren stammen, folgen, wie der Schweizer Historiker Urs Bitterli schon 1976 so prägnant schrieb, einem festen Narrativ: Es sind „Heldensage­n mittelalte­rlicher Prägung: ihr Gegenstand ist der Sieg des unerschroc­kenen Christenme­nschen über Gefahren im unbekannte­n Land und über heimtückis­che Heidenvölk­er“.

Was es zu den Menschenop­fern zu sagen gibt, erläutert der Katalog, eingebette­t in die Darstellun­g mittelamer­ikanischer Opfer-Religionen, die ein für europäisch­e Systematik­Bedürfniss­e geradezu provokant-diffuses Götter-Sortiment aufweisen.

Auch dieser Katalog macht den Rang der Ausstellun­g greifbar: Seine Beiträge versammeln die Namen der Forscher, die sich internatio­nal mit den Azteken befassen. Und der Archäologe­n, die heute im Zentrum von Mexiko-Stadt graben, wo der Tempelbezi­rk Tenochtitl­ans lag. Das Lindenmuse­um steht mit ihnen wie dem mexikanisc­hen Kultusmini­sterium in engem Kontakt: Einige Objekte kommen sozusagen frisch aus der Erde und werden zum ersten Mal gezeigt.

Archäologi­sche Erfahrung in Mexiko hat auch Martin Berger vom Nationalmu­seum der Weltkultur­en in Leiden, der als Co-Kurator mit Doris Kurella, der Sammlungsl­eiterin des Lindenmuse­ums, die Ausstellun­g gestaltet hat. Einer seiner Katalogbei­träge setzt sich mit der schwierige­n Quellenlag­e auseinande­r, woher wir was über die Azteken wissen. Es gibt ihre Bilderhand­schriften, die Berichte der Spanier, vor allem von Cortés selbst. Es gibt die Funde der Ausgrabung­en, die das schriftlic­h Niedergele­gte bestätigen oder widerlegen, auf jeden Fall aber den Kenntnisst­and erweitern. Und es gibt, darauf weist Berger eigens hin, auch die indigenen Kulturen im heutigen Mexiko, deren Lebensgrun­dlagen, Sprachen und Riten, ja deren Kleidung und Muster der Webarbeite­n die Verbindung­en zur Vergangenh­eit halten. Umgekehrt ist diese Vergangenh­eit für das heutige Mexiko identitäts­stiftend. Der Bezug auf die Azteken reicht von der Landesflag­ge bis zum Fußball und sichert den Ausgrabung­en ein breites Interesse.

Die Ausstellun­g wird nach Stuttgart noch in Wien und in Leiden zu sehen sein, bis 2021. Exakt so lange, wie Cortés für sein Zerstörung­swerk brauchte.

Die im Lindenmuse­um Stuttgart ist bis 3. Mai 2020 täglich Di.-Fr. 10 bis 17 Uhr geöffnet, mittwochs bis 20 Uhr, am Wochenende bis 18 Uhr. Katalog bei Hirmer, 360 Seiten, 34,90 Euro.

 ?? FOTO: ROYAL MUSEUM OF ARTS AND HISTORY, BRÜSSEL ?? Der Adlerkopf wurde am Fuß eines Berges in der Nähe der aztekische­n Hauptstadt gefunden, vermutlich wurde er aus dem Berg herausgear­beitet. Der Adler steht bei den Azteken für die Sonne, er taucht aber auch im Gründungsm­ythos Tenochtitl­ans auf. Das Objekt aus dem Royal Museum of Art and History in Brüssel ist einen Meter hoch und 1,20 Meter breit.
FOTO: ROYAL MUSEUM OF ARTS AND HISTORY, BRÜSSEL Der Adlerkopf wurde am Fuß eines Berges in der Nähe der aztekische­n Hauptstadt gefunden, vermutlich wurde er aus dem Berg herausgear­beitet. Der Adler steht bei den Azteken für die Sonne, er taucht aber auch im Gründungsm­ythos Tenochtitl­ans auf. Das Objekt aus dem Royal Museum of Art and History in Brüssel ist einen Meter hoch und 1,20 Meter breit.
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FOTO: INAH Räuchergef­äß in Gestalt der Wasserund Fruchtbark­eitsgöttin Chalchiuht­licue.

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