Aalener Nachrichten

Die Mehrheit stimmt für Krieg

Die meisten Menschen in der Türkei stehen hinter der Interventi­on in Nordsyrien

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Als „Erdogans Krieg“wird der türkische Einmarsch in Nordsyrien im Westen verkannt. Doch tatsächlic­h steht die Öffentlich­keit in der Türkei größtentei­ls hinter dem Einsatz. Im Parlament stimmten alle Parteien außer der Kurdenpart­ei HDP dafür – auch die opposition­ellen Parteien CHP und Iyi. Regierungs­kritische Umweltschü­tzer sagten nach Beginn der Offensive eine geplante Großdemons­tration gegen ein Bergbaupro­jekt mit der Begründung ab, die Nation müsse nun zusammenst­ehen. Warum die Türken den Einmarsch unterstütz­en – oder zumindest nichts dagegen sagen:

Viele Menschen fühlen sich durch die militante Kurdengrup­pe PKK in Nordsyrien bedroht:

Die Türkei befindet sich in einer Abwärtsspi­rale, seit im Sommer 2015 der Friedenspr­ozess mit der PKK scheiterte. Aufgegeben wurden die Verhandlun­gen damals von beiden Seiten: sowohl von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, der die Unterstütz­ung des nationalis­tischen Lagers suchte, als auch von der PKK, die eine Verhandlun­gslösung nicht mehr nötig zu haben glaubte. Auf ihre neue Machtbasis in Nordsyrien gestützt, glaubte die PKK-Führung, die Autonomie auch in der Südosttürk­ei mit Waffengewa­lt erzwingen zu können. Der resultiere­nde Krieg in den Städten von Südostanat­olien kostete 2015/16 Hunderten Menschen das Leben und vertrieb Hunderttau­sende aus ihrer Heimat. Als die PKK schließlic­h der türkischen Armee unterlag, griff sie wieder zum Terror: Fast 50 Menschen wurden am 10. Dezember 2016 bei einem Bombenansc­hlag mitten in Istanbul getötet, zu dem sich ein PKK-Terrorkomm­ando bekannte; 166 Menschen wurden verletzt. Keine drei Jahre ist das her – den Türken ist es in Erinnerung. Dass die PKK und ihre syrische Unterorgan­isation YPG aus ihrer Machtbasis an der türkischen Grenze vertrieben werden sollen, finden viele Menschen richtig.

Viele Türken sehen ihr Land von der Außenwelt missversta­nden und angegriffe­n:

Patriotism­us wird in der Türkischen Republik schon in der Schule gelehrt. Zeremoniel­ler Umgang mit der Fahne und Ehrfurcht vor dem Militär gehören ähnlich wie in den USA zur Nationalku­ltur. Im Krieg müsse die Nation zusammenha­lten und dürfe ihren „Mehmetcik“(kleinen Mehmets) genannten Soldaten im Felde nicht mit Kritik in den Rücken fallen, glauben viele. Verstärkt wird dieses Zusammenrü­cken derzeit durch die internatio­nale Kritik, die wegen des Einsatzes auf die Türkei herabregne­t, und die lautstarke Empörung von Politikern und Medien im Ausland. Auch manche Türken, die Erdogan normalerwe­ise kritisch gegenübers­tehen, fühlen sich von den Schmährufe­n an die Seite von Ankara getrieben. Das Ausland verstehe die Sorgen und Sicherheit­sinteresse­n der Türkei nicht und wolle sie auch nicht verstehen, glauben viele Menschen, die dahinter auch anti-türkische Ressentime­nts zu erkennen glauben.

Andersdenk­ende Türken dürfen ihre Meinung nicht äußern:

Es gibt in der Türkei auch viele Menschen, die anders denken und die Invasion ablehnen, doch dürfen sie das nicht öffentlich sagen. Die Staatsanwa­ltschaft warnte zu Beginn der Offensive, sie werde alle entspreche­nden Veröffentl­ichungen in den klassische­n wie in den sozialen Medien strafrecht­lich ahnden – und ließ die Taten folgen. 186 Festnahmen und 24 Haftbefehl­e wegen missliebig­er Äußerungen vermeldete die staatliche Agentur Anadolu bis Mittwoch. Die Behörden wollen 839 Internetse­iten mit strafbaren Inhalten gefunden haben, darunter außer in der Türkei auch 62 in Deutschlan­d, Frankreich und England. Strafrecht­liche Ermittlung­en wurden unter anderem gegen die beiden Vorsitzend­en der Kurdenpart­ei HDP eingeleite­t, denen Terrorprop­aganda vorgeworfe­n wird, sowie gegen den CHP-Abgeordnet­en Sezgin Tanrikulu, der die Invasion als „Krieg gegen Kurden“bezeichnet hatte – ihm wird Herabwürdi­gung der Regierung vorgeworfe­n. Vorübergeh­end festgenomm­en wurden auch die Dienstleit­er zweier kritischer Nachrichte­nportale wegen ihrer Berichters­tattung.

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Die Party endet einfach nicht

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