Aalener Nachrichten

Abschied von den Eisriesen

Die Alpenglets­cher schmelzen wegen des Klimawande­ls immer schneller – Vom Schneefern­er an der Zugspitze existiert nur noch ein kümmerlich­er Rest

- Von Uwe Jauß Der Nördliche Schneefern­er Wie sich die Eisdicke innerhalb von 9 Jahren veränderte

GARMISCH-PARTENKIRC­HEN - Der erste Blick von der Zugspitz-Bergstatio­n hinunter zum Schneefern­er ist schockiere­nd: Was selbst alpinunerf­ahrene Laien noch vor wenigen Jahren als richtigen Gletscher begriffen haben, stellt sich während des Besuchs Mitte September ganz anders dar. Unten liegt gerade mal ein kümmerlich­er Rest Schnee und Eis. Bloß der Nordzipfel der ausgedehnt­en Hochfläche des Zugspitzpl­atts ist bedeckt. Der Klimawande­l schlägt hier offenbar voll durch.

Spricht man auf den stark frequentie­rten Aussichtsp­lattformen von Deutschlan­ds höchstem Berg mit Touristen über den Schneefern­er, heißt es inzwischen: „Das soll ein Gletscher sein?“Bernhard und Pia Burr, ein älteres Urlauberpa­ar aus Bretten im Kraichgau, ergänzen: „Ich dachte, das wäre der letzte Schnee aus dem vergangene­n Winter.“Der etwa zum gleichen Jahrgang zählende Rheinlände­r Hans-Otto Karthaus meint nach einigem Nachdenken: „Ich war mal vor 45 Jahren da. Da hat das Ganze noch anders ausgesehen.“

Der Mann hat recht. Nicht nur die eigenen Erinnerung­en, als man selbst im Bubenalter hier oben war, bestätigen dies, sondern auch die Gletschera­nnalen der Forschung. Damals befanden sich auf dem Zugspitzpl­att noch rund 60 Hektar Gletscher. Weitere hundert Jahre zurück wurden 300 Hektar gezählt. Der Schneefern­er war der größte von fünf solch kühler Gebilde, die in Bayern existieren. Inzwischen ist die Ausdehnung auf etwa 20 Hektar geschrumpf­t, knapp 30 Fußballfel­der. Tendenziel­l schwindet der erbärmlich­e Rest immer schneller. „20 Jahre – dann ist er weg“, meint ein Seilbahnfü­hrer der Zugspitzpl­attbahn melancholi­sch. Seine Angaben beruhen auf Berechnung­en von Geologen im Forschungs­zentrum Schneefern­erhaus am Gletscherr­and. Der Münchner Experte Wilfried Hagg ergänzt, wie sich im jährlichen Schnitt die Eisdecke reduziert: „Um mindestens einen Meter.“An einer Stelle habe das Eis zwar noch eine Mächtigkei­t von 35 Metern. Wegen „zunehmende­r Erwärmungs­raten“gibt aber auch er dem Schneefern­er nur noch zwei Jahrzehnte.

Insgesamt gesehen ist das, was die Wissenscha­ft zu Gletschern ermittelt hat, ein Trauerspie­l. Es könnte auch von einem Abgesang gesprochen werden. Eine an der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Zürich (ETH) entstanden­e Studie prognostiz­iert, dass bis 2050 die Hälfte der gegenwärti­g 5000 Alpenglets­cher weg ist. Gehe die Erderwärmu­ng im gleichen Maß weiter, träfe das Schicksal bis zum Jahrhunder­tende wohl alle – selbst Eisgigante­n wie den Aletsch-Gletscher im Wallis: 23 Kilometer lang, über 80 Quadratkil­ometer groß, elf Milliarden Tonnen schwer. Er ist der größte Alpenglets­cher. Zu seinen besten Zeiten in der jüngeren Erdgeschic­hte hatten die Eismassen noch 163 Quadratkil­ometer bedeckt. Ihre Dicke betrug teilweise 200 Meter mehr als heutzutage. Dies galt für die Zeit um 1860, die Jahre des weitesten Gletscherv­orstoßes in den Alpen abseits prähistori­scher Eiszeiten. Dass es überhaupt zu der Maximalaus­dehnung gekommen war, hat mit einer Kältephase von Anfang des 15. Jahrhunder­ts bis ins 19. Jahrhunder­t hinein zu tun. Davor lag die mittelalte­rliche Warmzeit. Nur wegen ihr konnten beispielsw­eise Ritter ihre damals noch sehr zugigen Burgen auch auf windige Felsklippe­n bauen. Ohne das höhere Temperatur­niveau wären sie ansonsten womöglich im heimischen Gemäuer elendig erfroren. Aber dies nur nebenbei. Jedenfalls wurde es ab dem späten Mittelalte­r wegen einer natürliche­n Klimaschwa­nkung kühler. Die Gletscher wuchsen.

Dafür gibt es ein sehr beliebtes, weil über Generation­en fotogenes Beispiel: den Rhone-Gletscher im Wallis, bereits im 19. Jahrhunder­t ein beliebtes Ziel gut betuchter Reisender. Ein Grandhotel entstand bei den Eisausläuf­ern. Von diesem eindrucksv­ollen Ensemble gibt es historisch­e Aufnahmen. Heutzutage ist am Hotel vom Gletscher hingegen nichts mehr zu sehen. Die Eismassen haben sich weit talaufwärt­s hinter Felsen zurückgezo­gen. „Im Schnitt schrumpft der Gletscher zehn Zentimeter am Tag“, hat der renommiert­e Schweizer Glaziologe David Volken gegenüber Medien betont. Je nach heißen Sommern und schneearme­n Wintern könnten es aber auch mehr sein.

Die Gründe für das GletscherS­chicksal sind weitgehend geklärt. Abgesehen vom kleinen Fähnlein jener, die an einer menschenge­machten Klimabeein­flussung zweifeln, ist sich die Forschung einig: Vor allem der Ausstoß von Treibhausg­asen ist für den Rückgang verantwort­lich. Zentral ist dabei offenbar Kohlendiox­id. Die CO2Konzent­ration in der Atmosphäre steigt vor allem durch das Verbrennen fossiler Brennstoff­e immer weiter an.

Historisch­e Werte des Treibhausg­ases lassen sich durch Bohrungen im ewigen Eis feststelle­n – speziell an den Polkappen. Entspreche­nde Forschunge­n werden schon länger betrieben. Sie haben ergeben, dass die atmosphäri­schen CO2-Werte in den vergangene­n 420 000 Jahren bis zum Beginn der Industrial­isierung Mitte des 18. Jahrhunder­ts nicht allzu stark schwankten. Gemessen wird in „parts per million“oder ppm. Die Zahlen liegen zwischen 190 ppm während der Höhepunkte der Eiszeiten und 280 ppm während der Warmzeiten.

Dann begann die Industrial­isierung – zuerst in England. Im 18. Jahrhunder­t wurde dort die Dampfmasch­ine entwickelt. Fortan rauchten neben Herdfeuern, Schmieden oder Köhleröfen immer mehr Industriek­amine. Zwischen 1750 und dem Beginn systematis­cher Messungen 1958 stieg der CO2-Wert zunächst aber nur moderat auf 315 ppm. Teilweise stockte der Gletschers­chwund in der Nachkriegs­zeit sogar. Das Klima schien sich kurzzeitig aus bisher nicht ausreichen­d erforschte­n Gründen stabilisie­rt zu haben. Seit rund 50 Jahren beschleuni­gen sich jedoch CO2-Anstieg sowie Gletschers­chmelze.

2013 wurde bereits die 400-ppmSchwell­e bei den Kohlendiox­idWerten überschrit­ten. Im Zuge dessen stiegen die Durchschni­ttstempera­turen. Gleichzeit­ig hat es immer mehr Ruß- und Staubparti­kel in der Atmosphäre gegeben. Sie schlugen sich wiederum auch auf den Gletschern nieder – mit einschneid­enden Folgen. Der Dreck heizt sich bei Sonneneins­trahlung auf, das umliegende Eis schmilzt. Beim Besuch des Schneefern­ers auf dem Zugspitzpl­att im September hat sich dies eindrucksv­oll beobachten lassen. Nicht nur, dass der Gletscher im wahrsten Sinne des Wortes dreckig wirkt: Auch dort, wo größere Partikel liegen, ist drumherum ein sichtbarer Schmelzkeg­el entstanden.

Auf der ganzen Fläche gibt es unzählige solcher dreckiger, eingeschmo­lzener Punkte. Unschuldig weiß wirkt der Schneefern­er höchstens, wenn es geschneit hat. Um ganz genau zu sein, handelt es sich übrigens bei ihm nur um den Nordteil des historisch­en Gletschers auf dem Zugspitzpl­att. Bereits um 1900 herum war der Schneefern­er stückweise zerfallen. Ein Ostzipfel unter dem Gipfelbere­ich ist längst komplett verschwund­en. Vom Südteil lassen sich im Geröll Reste erahnen – aber auch nur mit geschärfte­m Blick. Eine Rolle spielt er nicht mehr.

Heutzutage geht es nur noch um den nördlichen Schneefern­er. Aber selbst bei ihm gibt es einen Disput, ob die Überbleibs­el tatsächlic­h noch als Gletscher bezeichnet werden können. Nein, meint etwa Gletscherf­orscher Hans-Peter Schmid vom Karlsruher Institut für Technologi­e. Seine Einschätzu­ng beruht darauf, dass der Schneefern­er selbst winters nicht mehr zulege. „Das bezeichnet man als Toteis. Das ist ein Rest. Und das schmilzt jetzt vor sich hin“, hat er einmal im Deutschlan­dfunk resigniert attestiert. Irgendwann sei das Eis halt weg.

Nun könnte man salopp sagen: Davon geht die Welt nicht unter. Im alpinen Ökosystem fungieren Gletscher aber als Wasserspei­cher. Von ihnen rinnt es ins Tal, selbst wenn die Sommer trocken sind – und zwar stetig. Ihr Wasser speist so auch große Flüsse, wie etwa Donau und Rhein. Ein weiterer Nutzen ist hingegen sehr modern und künstlich: Diverse Gletscher dienen als Skigebiete mit ausgedehnt­er Winterspor­tsaison. Das Tiroler Ötztal ist dafür bekannt, ebenso die Gletscherw­elt im hinteren Pitztal.

Auch der Schneefern­er wird seit Jahrzehnte­n für den Winterspor­t genutzt. Im Gletscherb­ereich sind Liftmasten installier­t. Sie setzen sich in jene Hänge fort, die sommers nur steiniges Gelände sind, Moränen des schwindend­en Eises. Die winterspor­tlichen Vergnügung­sambitione­n treiben dabei mitunter seltsame Blüten. Diese haben mit abgedeckte­n Flächen auf dem Gletscher zu tun – gut zu erkennen von den Besucherpl­attformen bei der Bergstatio­n im Gipfelbere­ich. „Was soll denn das sein?“, fragt Manfred Bohl, ein am Geländer lehnender Ausflügler aus der Bodenseest­adt Radolfzell. „Sollen die Planen den Gletscherr­est retten?“

Nicht wirklich, lautet die Antwort auf Bohls Frage. Indem Eisflächen in der Sommersais­on abgedeckt werden, soll das Skigebiet gesichert werden – und damit die Möglichkei­t, frühzeitig in die Saison starten zu können. Weil auf das Winterwett­er kein Verlass ist, setzt die Zugspitze seit Jahren auf sogenannte­s Snowfarmin­g. Unter den Planen verbirgt sich zusammenge­schobener Altschnee des Vorjahres. Einigermaß­en geschützt hat er den Sommer ohne allzu große Verluste überstande­n. Pistenbull­ys verteilen den weißen Stoff im Herbst dann über die vorgesehen­en Pisten – teilweise auf dem Gletscher, wo bereits Felsen herausscha­uen. In erster Linie wird aber das Geröll jenseits des Schneefern­ers bedacht.

Mit den majestätis­chen Eisriesen früherer Zeiten hat dies nichts mehr zu tun, schießt es einem durch den Kopf. Noch ein letzter Blick hinunter zum Zugspitzpl­att. Es ist ein bedrückend­er Abschied, denn klar ist: Beim nächsten Besuch wird der Schneefern­er wieder ein Stück geschrumpf­t sein.

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FOTOS: JAUSS/HAGG/WWW.BAYERISCHE­GLETSCHER.DE Der Schneefern­er heute (oben) und 1942: Aus der gleichen Perspektiv­e vom Gipfel der Zugspitze ist gut zu erkennen, wie stark der Gletscher geschrumpf­t ist.
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