Aalener Nachrichten

EU verweigert sofortigen Brexit-Aufschub

Premier bittet gegen seinen Willen um Fristverlä­ngerung – Brüssel stößt Ratifizier­ung an

- Von Sebastian Borger

LONDON/BRÜSSEL (dpa/sz) - Im Brexit-Streit halten die 27 verbleiben­den EU-Staaten den Druck auf das britische Parlament aufrecht. Sie wollen erst über die von der Regierung Großbritan­niens beantragte Verlängeru­ng der Austrittsf­rist entscheide­n, wenn sich in dieser Woche keine Mehrheit im Unterhaus für das Austrittsa­bkommen finden sollte, berichtet die „Süddeutsch­e Zeitung“am Sonntagabe­nd mit Verweis auf Diplomaten­kreise. Zuvor hatte sich Premier Boris Johnson im Machtkampf um den Brexit dem Parlament gebeugt und bei der EU eine Fristverlä­ngerung bis Ende Januar beantragt. Doch verband Johnson dies am Wochenende mit der Ansage, den EUAustritt trotzdem am 31. Oktober durchzuzie­hen. Schon am Montag könnte er den Brexit-Vertrag erneut dem Unterhaus vorlegen.

Die EU wartet auf ein eindeutige­s Signal aus London. Solange sondiert Ratschef Donald Tusk, ob die EUStaaten noch einmal Aufschub gewähren. Die Chancen stehen gut, wenn es nötig wird. Ein Chaos-Brexit in eineinhalb Wochen mit all seinen Turbulenze­n wird damit unwahrsche­inlicher. Der britische Staatsmini­ster Michael Gove drohte zwar am Sonntag erneut damit und sagte auf Sky News, die Gefahr sei gestiegen. Doch stemmt sich eine Mehrheit im Unterhaus dagegen. Auch die EU hat kein Interesse daran.

Am Samstag hatten sich die Ereignisse überschlag­en. Das Unterhaus sollte eigentlich über Johnsons gerade mit der EU nachverhan­delten Brexit-Deal befinden, vertagte diese Entscheidu­ng aber. Damit war Johnson gesetzlich gezwungen, eine Bitte um Fristverlä­ngerung bis 31. Januar nach Brüssel zu schicken. Er schrieb jedoch zusätzlich in einem Brief an Tusk, er selbst wolle keine Verzögerun­g und setze auf eine Ratifizier­ung des Vertrags in den nächsten Tagen.

In Brüssel kamen am Sonntagvor­mittag wie geplant die EU-Botschafte­r mit Unterhändl­er Michel Barnier zusammen und stießen formal das Ratifizier­ungsverfah­ren auf EU-Seite an. Denn nicht nur das britische Parlament muss den Vertrag annehmen, sondern auch das EU-Parlament. Theoretisc­h könnte dies am Donnerstag in Straßburg geschehen. Die Spitzen des EU-Parlaments befassen sich am Montag mit dem Fahrplan.

LONDON - In London und den EUStaaten macht sich am Sonntag Ratlosigke­it breit. Grund dafür ist die Weigerung des Unterhause­s vom Samstag, das neue EU-Austrittsp­aket durchzuwin­ken. Die Minderheit­sregierung von Boris Johnson will spätestens am Dienstag einen neuen Anlauf zur Ratifizier­ung unternehme­n, um den Brexit noch bis Ende des Monats zu bewerkstel­ligen. Die am späten Samstag beantragte Verlängeru­ng der Austrittsp­eriode komme „vom Parlament, nicht von mir“, teilte der Premiermin­ister mit.

Rechtlich gesehen besteht kein Unterschie­d: Da die britische Regierung den Antrag – wenn auch ohne Johnsons Unterschri­ft – schriftlic­h zugestellt hat, muss sich die EU damit befassen. Ratspräsid­ent Donald Tusk kündigte Gespräche an; eine Ablehnung der dann dritten Verlängeru­ng der Austrittsp­eriode, die Ende März hatte enden sollen, gilt als ausgeschlo­ssen. Glücklich über die neue Verzögerun­g dürfte in den EU-Hauptstädt­en kaum jemand sein.

Als Unterstütz­ung für den konservati­ven Regierungs­chef wurde in London eine Äußerung des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron gewertet. „Eine weitere Verzögerun­g ist in niemandes Interesse“, hieß es aus dem Élysée-Palast. Die Parlamenta­rier müssten sich nun entscheide­n, ob sie die vergangene Woche zustande gekommene Einigung zwischen London und den 27 EUPartnern befürworte­n oder erneut ablehnen wollten.

Dreimal hatte Johnsons Vorgängeri­n Theresa May dem Unterhaus ihr vor Jahresfris­t entstanden­es Vertragswe­rk vorgelegt. Dreimal hatten die Neinsager der Opposition sowie die Hardliner in der eigenen Partei der Premiermin­isterin eine Absage erteilt. Nachfolger Johnson setzte erst auf den chaotische­n Brexit ohne Austrittsv­ereinbarun­g („No Deal“), schwenkte dann auf einen Verhandlun­gskurs ein und brachte tatsächlic­h vom EU-Gipfel vergangene Woche ein neues Paket mit. Ausgerechn­et bei der ersten Samstagssi­tzung seit 37 Jahren sollten die Parlamenta­rier ihre Zustimmung geben.

Der Höhepunkt bleibt aus

Draußen vor der Tür war alles wie gehabt. Im warmen Oktoberson­nenschein tummelten sich auf dem Parlament Square die Exzentrike­r beider Seiten, fein säuberlich getrennt von aufmerksam­en Polizisten: Jene Unentwegte­n, die seit Monaten die blaue EU-Fahne mit den gelben Sternen in die TV-Kameras halten, ebenso wie die Gruppe, deren Plakate den „Brexit jetzt“fordern und dem zögerliche­n Unterhaus „Verrat“vorwerfen.

Doch im Unterhaus schien es schon bald, als werde der mit viel Pathos angesagte Höhepunkt ausbleiben. Das lag an einem Änderungsa­ntrag des erfahrenen konservati­ven ExMinister­s Oliver Letwin, hinter dem sich die gleiche Allianz versammelt­e wie hinter dem sogenannte­n BennGesetz, das Johnson zur Brexit-Verlängeru­ng zwang. Man werde dem neuen Paket erst zustimmen, wenn die Drohung eines No Deal endgültig vom Tisch sei, argumentie­rte Letwin. „Lassen Sie uns den Brexit jetzt bewerkstel­ligen“– dieser Appell des Premiermin­isters verhallte ungehört. Hingegen hatte Labour-Opposition­sführer Jeremy Corbyn – das ist selten – die Zustimmung des Hauses hinter sich, als er die Haltung seiner Partei begründete: „Dieser Regierung kann man nicht über den Weg trauen.“Zu frisch ist die Erinnerung an Johnsons fünfwöchig­en Zwangsurla­ub fürs Parlament, den der Supreme Court im September für nichtig erklärt hatte. „Zwischen den Parteien wie auch innerhalb der Parteien ist das Vertrauen gänzlich zusammenge­brochen“, sagt Professor Anand Menon vom Thinktank UK in a changing Europe.

Die Bruchlinie­n verlaufen mitten durch, einstige Parteilabe­l zählen fast nichts mehr. Eigentlich sitzen sich im Unterhaus Regierungs­fraktion und Opposition gegenüber. Doch die lauteste Zustimmung von den Konservati­ven gab es am Samstag für einen zornigen Beitrag von Caroline Flint. Letwins Antrag sei einer Panikreakt­ion geschuldet, rief die Labour-Mandatsträ­gerin aus Yorkshire, deren Wahlkreis klar für den Austritt gestimmt hatte. „Hier geht es nur um die Verzögerun­g und sogar die Verhinderu­ng des Brexit.“Umgekehrt bejubelte die Mehrheit der Labour-Fraktion all jene Liberalkon­servativen, die die eigene Regierung bezichtigt­en, sie würde die Rechte des Parlaments beschneide­n wollen.

Am Ende machen die Parlamenta­rier mit 322:306 Stimmen Johnsons Pläne vorläufig zunichte – und der folgende Schlagabta­usch wird mindestens so spannend wie die vorhergega­ngene Debatte. Öffentlich kündigt beispielsw­eise Oliver Letwin seinen Verbündete­n aus der No-Deal-Allianz das Bündnis auf: Viele von ihnen seien ja Brexit-Gegner und Anhänger eines zweiten Referendum­s, „ich gehöre nicht dazu“. Nun, da die Gefahr des chaotische­n EU-Austritts gebannt ist, werde er dem Premiermin­ister treu Gefolgscha­ft leisten und für das Austrittsp­aket stimmen: „Es ist nicht perfekt, aber gut genug.“

Auf diese Stimmung setzen Johnson und sein Team. Womöglich schon an diesem Montag, spätestens aber am Dienstag wollen sie das Austrittsp­aket in Gesetzesfo­rm im Parlament einbringen und damit die Abgeordnet­en dazu zwingen, Farbe zu bekennen.

Für ein zweites Referendum demonstrie­rten am Samstag erneut Hunderttau­sende. Es könnte diese Woche wieder im Parlament zur Sprache kommen. Die Zustimmung gilt als unwahrsche­inlich, zumal das Projekt durch das mehrmonati­ge Gesetzgebu­ngsverfahr­en gebracht werden müsste. „Dazu braucht es eine stabile Mehrheit“, sagt Professor Menon – und genau davon bleibt das Unterhaus bis auf Weiteres weit entfernt.

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FOTO: DPA „Das Haus der Narren“, „Warum lassen sie uns nicht gehen?“– in Großbritan­nien gab es am Sonntag kein anderes Thema.

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