Der Tabellenführer der Herzen
Es ist, so viel darf man nach einem knappen Viertel sagen, eine hervorragende Bundesligasaison bis dato, denn es geht eng zu wie nie. Keiner hält sich für etwas Besseres, keiner wertet den anderen ab, um sich selber aufzuwerten, keiner blickt vom Gletschergipfel narzisstisch auf andere herab, nicht mal der Steinbock Uli
Hoeneß meldet sich zu Wort – weil jeder weiß, dass er am nächsten Wochenende schon wieder selbst der Verlierer sein könnte. Ganze zwei Pünktchen liegen derzeit zwischen Platz eins, also dem potenziellen Meistertitel, und Platz neun, also dem potenziellen Nirvana. Zwischen Gladbach also und Bayer Leverkusen. Kommunistischer und gleicher war die Bundesliga wohl nie. Spannung!
Auf Schalke freuten sie sich am Sonntag schon, den Berg als Erster zu erklimmen, traditionell aber jubelten die Knappen zu früh. Statt eines Auswärtssiegs setzte es in Hoffenheim eine 0:2Pleite, und Trainer David Wagner wendete sich nach Abpfiff enttäuscht ab. Statt Bester ist Schalke Siebter. Erster waren sie zuletzt am 28. Spieltag 2009/10 unter Felix Magath, zum letzten Mal Meister zu einer Zeit, als es noch keine Computer gab, um Tabellen auszurechnen. Diverse Ururgroßeltern behaupten steif und fest, es sei Mitte des letzten Jahrhunderts geschehen. Dabei wäre ein Schalker Sieg mehr als verdient gewesen am Sonntag. 04 war hochüberlegen, die Tore aber erzielten die Hoffenheimer, die die Rückkehr ihres verletzten Torjägers Andrej Kramaric feierten. Der lange verletzte Vize-Weltmeister aus Kroatien traf prompt zur Führung (71.), Joker Ihlas Bebou (85.) legte nach.
„Es gibt keine Diskussion, dass wir ein gutes Auswärtsspiel gemacht haben. Aber wir haben kein Tor erzielt“, haderte Wagner danach, besann sich aber sogleich der guten alten Regel, dass man aus Niederlagen mehr lernt als aus Siegen. „Auch aus diesem Spiel können wir lernen“, sagte er. Torhüter
Alexander Nübel räumte ein: „Wir haben selten ein Spiel so dominiert. Aber zwingende Torchancen hatten wir nicht.“In jedem Fall vergab Schalke, der Tabellenführer der Herzen, die schöne Gelegenheit, Borussia Dortmund am Samstag als Spitzenreiter zum Derby aller Derbys zu empfangen. Immerhin: Der BVB ist es auch nicht, denn Tabellenführer bleibt nach dem 0:1 in Dortmund lustigerweise Borussia Mönchengladbach.
Natürlich hätten auch RB Leipzig oder der VfL Wolfsburg – genauso wie der große FC Bayern, der kleine SC Freiburg oder Leverkusen, auch so ein Meister der Herzen – nach diesem wundersamen 8. Spieltag auf der Sonnenseite überm finsteren Tal stehen können, aber die sogenannten Plastikclubs einigten sich darauf, mit einem friedlich-schiedlich-niedlichen 1:1 auseinanderzugehen. Kann man ja mal machen. Timo Werner traf zum 1:0 (54.), Wout Weghorst mit seiner ersten und einzigen Chance zum 1:1 (82.). Wolfsburg bleibt damit der moralische Tabellenführer, denn als einzige europäische Mannschaft der Topligen neben Juventus Turin ist der VfL in allen Wettbewerben noch ungeschlagen. Saisonübergreifend ist Wolfsburg gar seit elf Partien ohne Niederlage. Trainer Oliver Glasner frohlockte: „Es hat richtig Spaß gemacht, meinen Spielern heute beim Fußball zuzuschauen.“Als Österreicher ist er es zwar gewohnt, die Gipfel anzustreben, dennoch ist Wolfsburg derzeit als Zweiter noch nicht Erster und auch nur zwei Zähler weg vom Nirwana. Ohnehin ist Glasner kein Berggeher, er spielt lieber Golf.
Leipzigs junger Gipfelstürmer Julian Nagelsmann freute sich gar nicht, er tobte wieder mal. „Ich habe die Jungs schon laut angepackt“, sagte der 32-jährige Coach. „Normal bin ich nicht laut, aber heute war ich es. Wir verlieren einfach zu viele Bälle, ohne Druck vom Gegner. Wir sind im letzten Drittel einfach zu hektisch an der Murmel.“Vorstandschef Oliver
Mintzlaff bemühte derweil die Trauerwelt der Zahlen: „Es fühlt sich wie eine Niederlage an. Fünf Punkte aus den letzten vier Heimspielen sind zu wenig, zwei Punkte aus den letzten beiden Spielen auch. Wir können mehr.“Das sagen sich derzeit viele in der Bundesliga, aber so bleibt es wenigstens eng und kuschelig in der Liga. Und allen Mittelmäßigen sei gesagt: Lieber ein Bett im Mittelfeld als eins am Gipfel, im Eis- und Geröllfeld.